June A. Miller

SAOMAI


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wollte, hatte sich Saomai vor Überraschung setzen müssen. Nadee war herbeigeeilt und hatte sich über sie gebeugt. Dummerweise war in diesem Moment Direktor Wong auf der Kinderstation aufgetaucht. Er hatte die Situation völlig missverstanden.

      „Dr. Saomai“, hatte er gezischt, „Sie können sich hier nicht so gehen lassen! Unsere Patienten erwarten Ärzte mit Disziplin und Würde.“

      Saomai war erschrocken aufgesprungen.

      „Sie sehen fürchterlich aus. Gehen Sie nach Hause!“

      Sie konnte den feisten Chinesen nicht ausstehen. Von den Schlitzaugen bis zu den schmierigen Koteletten, die ihn wie eine asiatische Karikatur von Elvis-Presley aussehen ließen, wirkte alles an ihm korrupt. So korrupt, wie seine Amtseinführung. Im ganzen Ärztekolleg hatte niemand je von ihm gehört, bis er nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters als neu ernannter Krankenhausdirektor hereinspaziert war. Saomai wurde das Gefühl nicht los, dass Wong auf eine günstige Gelegenheit lauerte, sie, die Tochter des alten Direktors, loszuwerden. Heute jedenfalls hatte er sie wieder einmal abgestraft.

      Doch sie hatte auf einen Einspruch verzichtet und auch Nadee mit einem mahnenden Blick davon abgehalten, Partei zu ergreifen. Zu dringend musste sie nachdenken und kam Wongs Aufforderung nur allzu gern nach. Sie fuhr zum Königspalast, einem beliebten Ausflugsziel für Touristen. In der renommierten Universität von Wat Pho hatte sie studiert. Sie kannte jeden Winkel der alten Gemäuer und entkam daher schnell den Touristenscharen. Hinter einer Gruppe goldener Chedis, glockenförmiger Bauten zur Verehrung Buddhas, bog sie nach rechts und gelangte in einen schmalen Gang zwischen zwei hohen Mauern. Nach wenigen Metern fand sie ein unscheinbares Holztor und schlüpfte hindurch. Vor ihr lag ein quadratischer Innenhof, üppig bewachsen und mit einem sanft plätschernden Teich in seiner Mitte. Saomai liebte diesen geheimen Garten inmitten des pulsierenden Bangkoks.

      Sie hatte sich im Lotussitz auf eine alte Steinbank gekauert und zu dem Buddha am gegenüberliegenden Teichufer gesprochen.

      In ihrem Kopf tobte ein Sturm. Was sollte sie jetzt tun? Ihr spontaner Plan, Fergusons Masseurin zu werden und so an Lamom Benjawan heranzukommen, war nach dem Frust der vergangenen Monate ein kleiner Hoffnungsschimmer gewesen. Doch das hatte nicht funktioniert. War vielleicht auch zu simpel gewesen.

      Auf keinen Fall hatte sie in Erwägung gezogen, mit ihm zu schlafen. Oder ihm einen zu blasen! Und dann war es das Erste, was er von ihr verlangt hatte! Was fiel diesem Menschen überhaupt ein! Schon wieder kochte Wut in ihr hoch. Saomai ermahnte sich zur Vernunft. Denn wenn sie ehrlich war: was blieb ihr anderes übrig, als die Einladung in sein Penthouse anzunehmen?

      Sie beendete ihr Zwiegespräch mit dem unbestimmten Gefühl, zu wissen, was sie erwartete. Es gab vermutlich nur einen Grund, warum Neill Ferguson sie zu sich bat, nur eines, wie sie ihn für sich interessieren konnte. Nun, wenn sie dadurch an Lamom Benjawan herankam, war sie bereit, es ihm zu geben.

      Saomai dankte Buddha, indem sie ihm Yasminblüten in den Schoß legte. Sie fuhr in ihr Apartment, duschte und zog sich um.

      Nun stand sie vor Neill Ferguson und wartete geduldig, was er ihr anzubieten hatte.

      Darüber schien er noch nachzudenken.

      „Wir hatten keinen so guten Start, nicht wahr?“, sagte er endlich.

      „Nein“, gab sie zurück und hoffte, dass ihn der leise Vorwurf in ihrer Stimme nicht verärgerte.

      „Dann schlage ich vor, dass wir noch einmal von vorn anfangen. Kommen Sie!“

      Mit diesen Worten führte er Saomai aus dem opulenten Flur, der von einem modernen Kristalllüster überdacht wurde. Das angrenzende Zimmer, ein Salon in den Ausmaßen eines Tennisplatzes, wurde zur Hälfte von einer einladenden Sofagruppe eingenommen. Erdtöne gaben dem Raum eine Gemütlichkeit, die Saomai einem Geschäftsmann wie Ferguson nicht zugeschrieben hätte. Doch wirklich überwältigend war die bodentiefe Fensterfront, die einen Hundertachtzig-Grad-Blick über das abendliche Bangkok preisgab. Von hier oben blickte man auf ein Lichtermeer, das bis an den Horizont flutete.

      Neill beobachtete Saomai. Er kannte die Wirkung dieses Ausblicks auf seine Besucher. Er war ja selbst jeden Tag aufs Neue davon fasziniert.

      Sie ist sexy, dachte er, und seine Phantasie spielte ihm vor, wie sie sich vor der nächtlichen Kulisse auszog und für ihn tanzte. Der Gedanke erregte ihn unerwartet heftig. Rasch drehte er sich in Richtung der Bar, die an die Sofagruppe grenzte.

      „Was denken Sie gerade, Mr. Ferguson?“

      Saomai hatte sich vom Fenster abgewandt und blickte ihn an, als wüsste sie es nur zu genau. Neill ließ sich Zeit mit seiner Antwort. In aller Ruhe gab er Eiswürfel in einen silbernen Shaker, fügte eine klare Flüssigkeit hinzu und verrührte beides mit einem Barlöffel. Er nahm zwei Martinischalen, gab Oliven hinein und seihte die Drinks ab. Dann wandte er sich um und kehrte, in jeder Hand ein Glas, zu Saomai zurück.

      „Was ist mit ihrem Fuß passiert?“, fragte er unverhofft.

      Saomai zuckte zusammen. So direkt hatte das noch niemand gefragt.

      „Darüber möchte ich nicht sprechen“, erwiderte sie eine Spur zu schroff.

      Etwas versöhnlicher fragte sie deshalb: „Weshalb haben Sie mich hergebeten, Mr. Ferguson?“

      Er lächelte.

      „Ich möchte herausfinden, was Sie draufhaben, Saomai“, sagte Neill, während er ihr den Martini reichte. „Denn, wenn Sie so gut sind, wie Chandra behauptet“, er trat so nah an sie heran, dass sein Atem ihr Ohr streifte, „könnte ich mir vorstellen, Sie zu engagieren.“

      Er lehnte den Oberkörper zurück und hob sein Glas.

      Doch anstatt seinen Toast zu erwidern, fragte Saomai ungerührt: „Was genau verstehen Sie darunter?“

      „Ich möchte, dass Sie meine ganz persönliche Masseurin werden. Dass Sie mir jeden Abend zur Verfügung stehen. Hier in meinem Apartment. Mit allem, was dazu gehört.“

      Er hatte deutlich gemacht, was der Job inkludierte: sexuelle Verfügbarkeit.

      Als wäre es ein vollkommen seriöses Angebot erwartete er ihre Reaktion.

      Überraschung blitzte in Saomais Augen auf, gefolgt von einer Regung, die Neill nicht ganz deuten konnte. War das Triumph? Wenn ja, würde ihr sein nächster Vorschlag gefallen.

      „Lassen Sie sich auf ein Experiment ein, bevor Sie zustimmen“, seine grau-blauen Augen drangen in sie, „oder ablehnen!“

      Saomai drehte ihr Martiniglas in den Händen.

      „Was für ein Experiment?“

      Neill betrachtete sie noch einmal in aller Ruhe von Kopf bis Fuß.

      Sie ist eine echte Schönheit, dachte er, verwundert darüber, dass es ihm nicht neulich schon aufgefallen war.

      „Überlassen Sie sich heute Nacht mir. Wenn ihnen gefällt, was ich mit Ihnen mache, nehmen Sie mein Angebot an. Wenn nicht“, er hob entwaffnend die Hände, „werde ich mich großzügig bei Ihnen entschuldigen.“

      „Ich bin keine…“, beeilte sich Saomai klarzustellen, ließ den Satz jedoch unvollendet.

      Neill verstand auch so.

      „Vollkommen klar“, antwortete er höflich. „Ich bezahle Sie gut. Als Masseurin. Was darüber hinausgeht, ist“, er suchte nach dem passenden Wort, „Privatsache.“

      Konnte sie das?

      Saomai dachte an die schmerzvollen Erfahrungen des letzten Jahres. Die Trauer um ihren Vater und die hilflose Wut, mit der sie hatte hinnehmen müssen, dass sich Polizei und Staatsanwaltschaft weigerten, einen Mord aufzuklären. Sie dachte an Lamom Benjawan, der einfach weitermachen konnte, weil sich ihm niemand in den Weg stellte.

      Mit trotzigem Blick sah sie auf und Neill Ferguson direkt in die Augen. Er war ein attraktiver Mann und vielleicht ihre Chance auf Gerechtigkeit. Sollte er sich nehmen, was er von ihr wollte. Sie