wenn eine Sache zu dem entscheidenden Punkt gelangt war; aber es mangelte ihr auch schon vorher nicht daran. Allerdings gehörte auch sie zu der Klasse der »gewöhnlichen« Leute, die von Originalität träumen; aber sie erkannte doch sehr bald, daß sie keine Spur von besonderer Originalität besaß, und grämte sich darüber nicht allzu sehr – wer weiß, vielleicht aus einer eigenen Art von Stolz. Ihren ersten Schritt ins praktische Leben führte sie mit großer Entschlossenheit aus, indem sie Herrn Ptizyn heiratete; aber indem sie das tat, sagte sie ganz und gar nicht zu sich selbst: »Will man gemein handeln, dann gründlich, wenn man nur sein Ziel erreicht«, wie Gawrila Ardalionowitsch in solchem Fall nicht unterlassen hätte sich auszudrücken (er war nahe daran, sich vor ihren eigenen Ohren so auszudrücken, als er als älterer Bruder seine Billigung ihres Entschlusses aussprach). Vielmehr heiratete Warwara Ardalionowna ganz im Gegenteil erst, nachdem sie zu der wohlbegründeten Überzeugung gelangt war, daß ihr künftiger Gatte ein bescheidener, angenehmer, beinah gebildeter Mann sei und größere Gemeinheiten nie und um keinen Preis begehen werde. Nach kleineren Gemeinheiten fragte Warwara Ardalionowna nicht; das waren eben Kleinigkeiten, und solche Kleinigkeiten kamen ja in der Welt überall vor. Ein Ideal zu suchen hätte sie für töricht gehalten. Zudem wußte sie, daß sie durch diese Heirat ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Brüdern zu einer Unterkunft verhalf. Da sie ihren Bruder Ganja im Unglück sah, so wünschte sie, trotz aller früheren Zwistigkeiten in der Familie, ihm zu helfen. Ptizyn drängte seinen Schwager Ganja manchmal, natürlich freundschaftlich, dazu, wieder eine Stelle anzunehmen. »Da verachtest du nun die Generäle und den Generalsrang«, sagte er mitunter scherzend zu ihm; »aber paß einmal auf, alle deine idealistisch veranlagten Bekannten werden schließlich, wenn die Reihe an sie kommt, Generäle werden; wenn du lange genug lebst, wirst du es schon sehen.« »Wie kommen manche Leute nur zu dem Glauben, ich sei ein Verächter der Generäle und des Generalsranges?« dachte Ganja im stillen bitter und spöttisch. Um ihrem Bruder behilflich zu sein, entschloß sich Warwara Ardalionowna dazu, den Kreis ihrer Tätigkeit zu erweitern: sie verschaffte sich Zutritt bei der Familie Jepantschin, wobei ihr Erinnerungen an die Kinderzeit halfen; denn sowohl sie selbst als auch ihr Bruder hatten als Kinder mit den Jepantschinschen Töchtern gespielt. Wir merken hier an, daß Warwara Ardalionowna, wenn sie mit ihren Besuchen bei den Jepantschinschen Damen irgendein phantastisches Ziel vor Augen gehabt hätte, vielleicht eben dadurch sofort aus jener Menschenklasse ausgeschieden wäre, zu der sie sich selbst rechnete; aber sie hatte kein phantastisches Ziel vor Augen, sondern es lag ihrerseits sogar eine sehr wohlbegründete Spekulation vor, bei der sie den Charakter dieser Familie als Grundlage benutzte. Aglajas Charakter studierte sie unermüdlich. Sie hatte sich die Aufgabe gestellt, die beiden jungen Leute, ihren Bruder und Aglaja, wieder zusammenzubringen. Vielleicht hatte sie tatsächlich einiges erreicht; vielleicht hatte sie auch Fehler begangen, indem sie zum Beispiel zu sehr auf ihren Bruder rechnete und von ihm etwas erwartete, was er nie und auf keine Weise hätte leisten können. Jedenfalls operierte sie bei Jepantschins sehr kunstvoll: sie erwähnte wochenlang ihren Bruder mit keinem Wort, war immer sehr wahrheitsliebend und aufrichtig und benahm sich schlicht, aber würdig. Was aber ihr innerstes Gewissen anlangt, so fürchtete sie sich nicht, in dasselbe hineinzublicken, und machte sich nicht den geringsten Vorwurf. Und dadurch wuchs ihre Kraft noch mehr. Nur eins, was ihr mißfiel, bemerkte sie manchmal an sich: daß auch sie sehr viel Ehrgeiz besaß, sich gelegentlich ärgerte und in ihrer Eitelkeit verletzt fühlte; besonders bemerkte sie das zu bestimmten Zeiten, und zwar fast jedesmal, wenn sie von Jepantschins fortging.
So kehrte sie also auch jetzt von ihnen heim und, wie wir schon gesagt haben, in nachdenklicher, trüber Stimmung. In dieser trüben Stimmung lag auch eine gewisse Portion spöttischer Bitterkeit. Ptizyn bewohnte in Pawlowsk ein unansehnliches, aber geräumiges Holzhaus, das an einer staubigen Straße gelegen war und demnächst in seinen vollen Besitz übergehen sollte, so daß er schon seinerseits es wieder einem Dritten zum Kauf angeboten hatte. Als Warwara Ardalionowna die Freitreppe hinanstieg, hörte sie oben im Haus einen ungewöhnlichen Lärm und unterschied die schreienden Stimmen ihres Bruders und ihres Vaters. In den Salon eintretend, sah sie Ganja, der, ganz blaß vor Wut, im Zimmer auf und ab lief und sich beinah die Haare ausriß; sie runzelte bei diesem Anblick die Stirn und ließ sich mit müder Miene auf das Sofa sinken, ohne den Hut abzunehmen. Sie wußte ganz genau, daß, wenn sie noch ungefähr eine Minute lang schwieg und ihren Bruder nicht fragte, warum er so umherlaufe, dieser mit Sicherheit darüber in Zorn geraten werde; daher beeilte sie sich schließlich, in Form einer Frage zu sagen:
»Immer noch die alte Geschichte?«
»Ach was, die alte Geschichte!« rief Ganja. »Die alte Geschichte! Nein, weiß der Teufel, was jetzt hier vorgeht! Etwas Neues! Der Alte ist ganz rasend geworden ... die Mutter heult. Wahrhaftig, Warja, rede, was du willst, aber ich werde ihn aus dem Haus jagen oder ... oder selbst von euch wegziehen«, fügte er hinzu, wahrscheinlich weil ihm einfiel, daß man aus einem fremden Haus niemand wegjagen kann.
»Man muß doch Nachsicht haben«, murmelte Warja.
»Nachsicht womit? Mit wem?« fuhr Ganja auf. »Mit seinen Gemeinheiten? Nein, da kannst du reden, was du willst, aber das geht so nicht länger! Unmöglich, unmöglich, unmöglich! Und was ist das für eine Manier: er hat sich vergangen und trumpft dabei noch auf. Wie ein störrisches Tier: ›Ich will nicht ins Tor, reiß den Zaun nieder!‹ Warum sitzt du so da? Was machst du denn für ein Gesicht?«
»Mein Gesicht ist wie immer«, erwiderte Warja mißvergnügt. Ganja sah sie genauer an. »Bist du dort gewesen?« fragte er plötzlich.
»Ja.«
»Warte, da schreit er wieder! Es ist eine Schande, und noch dazu in einer solchen Zeit!«
»Was meinst du damit: ›in einer solchen Zeit?‹ Es ist doch keine besondere Zeit.«
Ganja betrachtete seine Schwester noch aufmerksamer.
»Hast du etwas erfahren?« fragte er.
»Nein, wenigstens nichts Unerwartetes. Ich habe erfahren, daß das alles seine Richtigkeit hat. Mein Mann hat gegen uns beide recht behalten; es ist so gekommen, wie er es gleich von Anfang an vorhergesagt hat. Wo ist er denn?«
»Er ist nicht zu Hause. Was ist denn also geschehen?«
»Der Fürst ist regulärer Bräutigam; die Sache ist entschieden. Die beiden älteren Schwestern haben mir gesagt, Aglaja habe eingewilligt; sie verheimlichen es nicht einmal mehr, während dort bisher eine arge Geheimniskrämerei stattfand. Adelaidas Hochzeit wird von neuem verschoben, damit beide Hochzeiten gleichzeitig gefeiert werden können, an demselben Tag – sehr romantisch! Es mutet einen ganz poetisch an. Du solltest lieber ein Hochzeitsgedicht verfassen, statt so unnütz im Zimmer umherzulaufen. Heute abend wird die alte Bjelokonskaja bei ihnen sein; sie ist gerade zur rechten Zeit angekommen; es werden auch noch mehr Gäste da sein. Sie werden ihn der alten Bjelokonskaja vorstellen, wiewohl er schon mit ihr bekannt ist; es scheint, daß die Verlobung bekanntgegeben werden soll. Sie fürchten nur, daß er irgend etwas hinfallen läßt oder zerschlägt, wenn er zu den Gästen ins Zimmer kommt, oder auch daß er selbst hinplumpst; denn dessen kann man sich bei ihm versehen.«
Ganja hörte sehr aufmerksam zu; aber zur Verwunderung seiner Schwester übte diese ihrer Meinung nach für ihn überraschende Nachricht anscheinend auf ihn gar nicht eine besonders überraschende Wirkung aus.
»Nun gut; das war ja schon lange klar«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Also nun ist das zu Ende!« fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu, indem er seiner Schwester verschmitzt ins Gesicht sah und immer noch fortfuhr, im Zimmer auf und ab zu gehen, wiewohl jetzt weit langsamer.
»Es ist nur gut, daß du es mit philosophischer Ruhe aufnimmst; ich freue mich darüber wirklich«, sagte Warja.
»Nun sind wir eine Last von den Schultern los; wenigstens du.«
»Ich glaube, dir aufrichtig gedient zu haben, ohne mein eigenes Urteil hineinzumischen und ohne dich mit Fragen zu belästigen; ich habe dich nicht gefragt, welches Glück du an Aglajas Seite zu finden hofftest.«
»Aber habe ich denn überhaupt ... ein Glück an Aglajas Seite zu finden gehofft?«
»Na,