Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


Скачать книгу

es mir ein andermal, daß man auch im Gefängnis ein inhaltlich reiches Leben führen könne.«

      »Diesen letzten löblichen Gedanken habe ich schon, als ich zwölf Jahre alt war, in meinem Lesebuch gelesen«, bemerkte Aglaja.

      »Das ist lauter Philosophie«, fügte Adelaida hinzu. »Sie sind ein Philosoph und sind hergekommen, um uns zu unterweisen.«

      »Da haben Sie vielleicht recht«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Vielleicht bin ich tatsächlich ein Philosoph, und wer weiß, vielleicht habe ich wirklich die Absicht, andere zu belehren. Sehr wohl möglich, ja, ja, sehr wohl möglich.«

      »Ihre Philosophie ist ganz von demselben Schlag wie Ewlampia Nikolajewnas Philosophie«, erwiderte wieder Aglaja. »Das ist eine Beamtenwitwe, die als arme Klientin manchmal zu uns kommt. Bei der dreht sich alles im Leben um die Wohlfeilheit; so billig wie nur möglich zu leben, das ist ihr Ideal, und sie redet auch von nichts anderem als von Kopeken; aber wohl zu beachten: sie hat Geld, das schlaue Frauenzimmer. Gerade so ist es auch mit Ihrem inhaltlich reichen Leben im Gefängnis und vielleicht auch mit Ihrer vierjährigen glücklichen Existenz im Dorf, für die Sie Ihr Neapel verkauft haben, und zwar, wie es scheint, mit Profit, wenn Sie dafür auch nur ein paar Kopeken bekommen haben.«

      »Was das Leben im Gefängnis anlangt«, erwiderte der Fürst, »so kann man doch anderer Ansicht sein als Sie. Ich habe darüber einen Menschen erzählen hören, der zwölf Jahre im Gefängnis gesessen hatte; er war einer der Patienten meines Professors und machte eine Kur. Er hatte heftige Anfälle, war manchmal sehr unruhig, weinte viel und versuchte sogar einmal, sich das Leben zu nehmen. Sein Leben im Gefängnis war ein sehr trauriges gewesen, kann ich Ihnen versichern, aber keineswegs so ein Kopekenleben. Und dabei bestand seine ganze Bekanntschaft aus einer Spinne und aus einem Bäumchen, das unter seinem Fenster wuchs ... Aber ich will Ihnen lieber von einer Begegnung erzählen, die ich im vorigen Jahr mit einem andern Menschen hatte. Bei diesem lag ein sehr merkwürdiger Umstand vor, merkwürdig besonders deshalb, weil ein solcher Fall nur sehr selten vorkommt. Dieser Mensch wurde einmal mit anderen zusammen auf das Schafott geführt, und man las ihm seine Verurteilung zum Tode durch Erschießen wegen eines politischen Verbrechens vor. Zwanzig Minuten darauf wurde ihm seine Begnadigung vorgelesen und ein anderer Grad der Bestrafung festgesetzt; aber die zwanzig Minuten oder wenigstens die Viertelstunde zwischen den beiden Urteilen hatte er in der zweifellosen Überzeugung verlebt, daß er nach wenigen Minuten plötzlich sterben werde. Ich hörte ihm mit dem größten Interesse zu, wenn er manchmal von seinen damaligen Gefühlen erzählte, und richtete mehrmals meinerseits Fragen darüber an ihn. Er erinnerte sich an alles mit außerordentlicher Klarheit und sagte, er werde von diesen Minuten nie etwas vergessen. Etwa zwanzig Schritte vom Schafott entfernt, um welches eine Menge Volk und Soldaten herumstanden, waren drei Pfähle in die Erde gegraben, da der Verurteilten eine ziemliche Anzahl war. Man führte die drei ersten zu den Pfählen hin, legte ihnen das Sterbekostüm an (lange weiße Kittel), zog ihnen weiße Kapuzen über die Augen, damit sie die Gewehre nicht sehen könnten, und band sie fest; dann nahm jedem Pfahl gegenüber eine Abteilung Soldaten Aufstellung. Mein Bekannter stand als achter in der Reihe, mußte also in dem dritten Trupp zu den Pfählen gehen. Ein Geistlicher ging bei allen mit einem Kruzifix umher. Nun war es soweit, daß er nur noch fünf Minuten zu leben hatte, nicht mehr. Er sagte, diese fünf Minuten seien ihm als ein endloser Zeitraum erschienen, als ein gewaltiger Reichtum; er habe die Vorstellung gehabt, als ob diese fünf Minuten noch so viel Leben für ihn einschlössen, daß er an die letzten Augenblicke noch gar nicht zu denken brauche; er habe daher noch allerlei Dispositionen darüber getroffen, habe die Zeit berechnet, die zum Abschiednehmen von seinen Kameraden erforderlich sei, und hierfür zwei Minuten angesetzt; dann habe er noch zwei Minuten dazu bestimmt, zum letzten Mal über sich selbst nachzudenken, und die dann noch verbleibende, um zum letzten Mal um sich zu schauen. Er hatte es sehr gut im Gedächtnis, daß er gerade in dieser Weise über seine Zeit verfügt und sie so berechnet hatte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, gesund und kräftig gewesen, als er dem Tode so nahe war. Er erinnerte sich, daß er beim Abschied von seinen Kameraden an einen derselben eine ziemlich nebensächliche Frage gerichtet und die Antwort mit großem Interesse gehört hatte. Dann, nachdem er von seinen Kameraden Abschied genommen hatte, kamen die beiden Minuten, die er dazu bestimmt hatte, über sich selbst nachzudenken; er wußte von vornherein, worüber er nachdenken würde: Er wollte sich möglichst schnell und klar eine Vorstellung davon machen, wie das zugehe, daß er jetzt existiere und lebe und in drei Minuten bereits irgend etwas sein werde, ein Jemand oder ein Etwas, also wer denn? Und wo? Über all diese Fragen gedachte er in diesen zwei Minuten ins klare zu kommen! Nicht weit davon stand eine Kirche, und das vergoldete Dach ihrer Kuppel glänzte im hellen Sonnenschein. Er erinnerte sich, daß er unverwandt nach diesem Dach und den davon ausgehenden Strahlen hingeblickt habe; er habe sich von diesen Strahlen gar nicht losreißen können; er habe die Vorstellung gehabt, als gehörten diese Strahlen zu seiner neuen Natur und als werde er in drei Minuten irgendwie mit ihnen zusammenfließen ... Die Ungewißheit und der Widerwille gegen dieses Neue, das geschehen und sogleich herankommen werde, seien furchtbar gewesen; aber er sagte, nichts habe ihm während dieser Zeit größere Pein bereitet als der unaufhörliche Gedanke: ›Wie aber, wenn ich nun nicht zu sterben brauchte? Wenn ich weiterleben könnte? Welche unendliche Perspektive! Und das alles würde dann mein sein! Ich würde dann jede Minute in eine ganze Ewigkeit verwandeln; nichts von meiner Zeit würde ich verlieren, jede Minute berechnen, keinen Augenblick nutzlos verschwenden!‹ Er sagte, dieser Gedanke habe sich bei ihm schließlich in einen solchen Ingrimm umgewandelt, daß er sogar gewünscht habe, nur möglichst bald erschossen zu werden.«

      Der Fürst schwieg plötzlich; alle hatten erwartet, daß er noch weiterreden und aus dem Erzählten Schlußfolgerungen ziehen werde.

      »Sind Sie zu Ende?« fragte Aglaja.

      »Wie beliebt? Ja, ich bin zu Ende«, erwiderte der Fürst, der eine Weile in Gedanken versunken dagesessen hatte und nun wieder zu sich kam.

      »Aber zu welchem Zweck haben Sie uns denn das erzählt?«

      »Eine besondere Absicht hatte ich nicht dabei ... es ist mir eingefallen ... ich kam im Gespräch darauf ...«

      »Sie brechen sehr kurz ab«, bemerkte Alexandra. »Sie wollten gewiß daraus folgern, Fürst, daß man keinen Augenblick nach Kopeken abschätzen kann und daß fünf Minuten mitunter wertvoller sind als ein Schatz Goldes. Das ist alles sehr löblich; aber gestatten Sie doch eine Frage: wie hat sich denn nun dieser Freund verhalten, der Ihnen eine solche Leidensgeschichte erzählt hat? Seine Strafe ist ja umgewandelt worden, und man hat ihm also dieses endlose Leben geschenkt. Was hat er denn nachher mit diesem Reichtum angefangen? Hat er denn nun jede Minute sorgsam ausgenutzt?«

      »Oh nein, er hat mir selbst gesagt (denn ich habe ihn danach gefragt), daß er keineswegs so gelebt, sondern viele, viele Minuten verloren habe.«

      »Nun also, da haben Sie einen Beleg dafür, daß man tatsächlich nicht imstande ist, das Leben vollständig auszukosten. Es muß wohl einen Grund geben, weshalb das unmöglich ist.«

      »Ja, es muß aus irgendeinem Grunde unmöglich sein«, wiederholte der Fürst. »Ich habe mir das selbst gesagt ... Aber ich weiß nicht, wie es kommt: ich glaube es doch nicht so recht ...«

      »Das heißt, Sie glauben, daß Sie verständiger leben werden als alle anderen Menschen?« fragte Aglaja.

      »Ja, auch das habe ich manchmal geglaubt.«

      »Und Sie glauben es noch?«

      »Und ... ich glaube es noch«, versetzte der Fürst und sah Aglaja mit demselben stillen, ja schüchternen Lächeln an wie vorher; dann aber lachte er sofort wieder auf, und sein auf sie gerichteter Blick wurde fröhlich und heiter.

      »Sehr bescheiden gesprochen«, bemerkte Aglaja in einem Ton, der beinah gereizt klang.

      »Wie tapfer Sie doch alle sind! Da lachen Sie nun, und auf mich wirkte seine ganze Erzählung so stark, daß ich nachher davon träumte, und namentlich von diesen fünf Minuten ...«

      Er ließ seine Augen noch einmal prüfend und ernst über seine Zuhörerinnen hinschweifen.

      »Sie