denn?« riefen alle drei Mädchen erstaunt.
»Nun, weil ich sozusagen den Schulmeister spiele ...«
Alle lachten.
»Wenn Sie mir zürnen, dann werden Sie mir, bitte, wieder gut!« sagte er. »Ich weiß ja selbst, daß ich weniger als andere gelebt habe und weniger als alle andern vom Leben verstehe. Ich rede vielleicht manchmal sehr wunderlich ...«
Hier geriet er tatsächlich ganz in Verwirrung.
»Wenn Sie sagen, daß Sie glücklich waren, so haben Sie nicht weniger gelebt als andere, sondern mehr; warum verstellen Sie sich dann also und entschuldigen sich?« begann Aglaja in scharfem, zänkischem Ton. »Sie brauchen sich übrigens nicht darüber zu beunruhigen, daß Sie uns belehren; von einem solchen Triumph Ihrerseits kann gar nicht die Rede sein. Bei Ihrem Quietismus kann man auch ein Leben, das hundert Jahre dauert, mit Glück anfüllen. Mag man Ihnen nun eine Hinrichtung oder einfach einen Finger zeigen, Sie werden aus dem einen und aus dem andern in gleicher Weise einen löblichen Gedanken schöpfen und dabei zufrieden und glücklich sein. Auf die Art läßt sich das Leben ertragen.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich immer so ereiferst«, sagte die Generalin, die schon lange die Gesichter der Redenden beobachtet hatte, »und wovon ihr eigentlich redet, daraus kann ich auch nicht klug werden. Von was für einem Finger ist denn die Rede? Was ist das für ein Unsinn? Der Fürst spricht sehr schön; nur ist das, was er sagt, ein bißchen zu traurig. Warum entmutigst du ihn? Als er anfing, lachte er, und jetzt ist er ganz verstört.«
»Ach was, Mama! Aber es ist schade, Fürst, daß Sie keine Hinrichtung mit angesehen haben; ich hätte Sie gern über einen Punkt befragt.«
»Ich habe eine Hinrichtung mit angesehen«, versetzte der Fürst.
»Wirklich?« rief Aglaja. »Das hätte ich mir von vornherein denken sollen! Das setzt dem Ganzen die Krone auf. Nun also, wenn Sie eine Hinrichtung mit angesehen haben, wie können Sie dann sagen, daß Sie die ganze Zeit über glücklich gelebt haben? Habe ich nicht recht?«
»Fand denn die Hinrichtung in Ihrem Dorf statt?« fragte Adelaida.
»Ich habe ihr in Lyon beigewohnt; ich war mit Schneider dorthin gefahren. Gleich nachdem wir angekommen waren, stießen wir auf diese Szene.«
»Nun, hat es Ihnen gefallen? War viel Erbauliches und Nützliches dabei?« fragte Aglaja.
»Es hat mir ganz und gar nicht gefallen, und ich war danach sogar etwas krank; aber ich gestehe, daß ich wie angeschmiedet dastand und hinsah und die Augen nicht davon abwenden konnte.«
»Ich hätte auch nicht wegsehen können«, sagte Aglaja.
»Es wird dort nicht gern gesehen, wenn sich Frauen dabei zum Zuschauen einfinden, und es stehen über solche Frauen sogar mißbilligende Bemerkungen in den Zeitungen.«
»Also wenn man findet, daß sich das nicht für Frauen schickt, so will man damit sagen, rechtfertigend sagen, daß es für Männer schicklich ist. Eine köstliche Logik! Und Sie denken gewiß ebenso.«
»Erzählen Sie uns doch etwas von der Hinrichtung!« unterbrach Adelaida sie.
»Ich möchte es jetzt nicht gern tun«, erwiderte der Fürst in sichtlicher Verlegenheit und mit düsterer Miene.
»Sie wollen es wohl aus Schonung für uns unterlassen?« fragte Aglaja spöttisch.
»Das nicht; aber ich möchte es nicht, weil ich von dieser Hinrichtung schon vorhin erzählt habe.«
»Wem haben Sie denn davon erzählt?«
»Ihrem Kammerdiener, während ich wartete.«
»Welchem Kammerdiener?« erscholl es von allen Seiten. »Nun, dem, der da im Vorzimmer sitzt, mit dem grauen Haar und dem rötlichen Gesicht; ich habe im Vorzimmer gesessen, bis ich zu Iwan Fjodorowitsch hineingehen durfte.«
»Das ist sonderbar«, bemerkte die Generalin.
»Der Fürst ist ein Demokrat«, erklärte Aglaja kurz.
»Nun, wenn Sie es Alexei erzählt haben, können Sie es uns auch nicht abschlagen.«
»Ich will es unter allen Umständen hören«, wiederholte Adelaida ihr Verlangen.
»Als Sie mich vorhin nach einem Gegenstand für ein Gemälde fragten«, wandte sich der Fürst zu ihr (er hatte sehr schnell und zutraulich wieder Mut gefaßt), »da kam mir wirklich der Gedanke, Ihnen einen solchen an die Hand zu geben: das Gesicht eines Verurteilten zu zeichnen, eine Minute vor dem Niederfallen des Beiles der Guillotine, wenn er noch auf dem Schafott steht, also bevor er sich auf das Brett legt.«
»Das Gesicht? Nur das Gesicht?« fragte Adelaida. »Das wird ein sonderbarer Gegenstand sein; was wird denn dabei für ein Bild herauskommen?«
»Ich wüßte nicht, warum man das nicht zeichnen sollte«, versetzte der Fürst beharrlich und eifrig. »Ich habe unlängst in Basel ein solches Bild gesehen. Ich würde es Ihnen sehr gern beschreiben ... Ich werde es auch ein andermal tun ... Es hat mir einen starken Eindruck gemacht.«
»Das Baseler Bild müssen Sie mir jedenfalls später einmal beschreiben«, sagte Adelaida. »Jetzt aber verdeutlichen Sie mir, bitte, das Bild von der Hinrichtung! Können Sie es so schildern, wie Sie es sich vorstellen? Wie soll man dieses Gesicht zeichnen? Das Gesicht allein? Wie sieht denn dieses Gesicht aus?«
»Es war genau eine Minute vor dem Tod«, begann der Fürst sehr bereitwillig (er schien von seinen Erinnerungen ganz hingerissen zu sein und sogleich alles übrige zu vergessen), »in dem Augenblick, wo er die Stufen hinaufgestiegen war und soeben das Schafott betreten hatte. Da blickte er nach der Seite hin, wo ich stand; ich sah ihm ins Gesicht und verstand alles ... Freilich, wie kann ich das mit Worten wiedergeben? Ich würde innig wünschen, daß Sie oder sonst jemand das zeichneten! Das beste wäre, wenn Sie es täten! Ich dachte gleich damals: ein solches Bild wird nützlich sein. Wissen Sie, man müßte darin alles zur Darstellung bringen, was vorhergegangen war, alles, alles. Er hatte, wie ich hörte, im Gefängnis gesessen und seine Hinrichtung frühestens in einer Woche erwartet; er rechnete auf die gewöhnlichen Formalitäten, darauf, daß das Todesurteil noch irgendwohin ge schickt werden müsse und erst nach Ablauf einer Woche wieder zurückkommen werde. Aber diesmal nahm durch irgendeinen Zufall die Sache einen kürzeren Lauf. Um fünf Uhr morgens schlief er noch. Es war Ende Oktober; um fünf Uhr ist es da noch kalt und dunkel. Der Gefängnisaufseher trat, von einer Schildwache begleitet, leise herein und berührte sacht seine Schulter; er richtete sich halb auf, stützte sich auf den Ellbogen und sah das Licht: ›Was gibt's?‹ – ›Um zehn Uhr ist die Hinrichtung.‹ Verschlafen, wie er war, konnte er es nicht glauben und wollte Einwendungen machen: das Urteil werde erst in einer Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist doch schrecklich, so plötzlich ...‹ und verstummte wieder und vermochte nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch die bekannten Dinge ausgefüllt werden: durch den Besuch des Geistlichen, durch das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich ja, welche Grausamkeit darin liegt; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott ... Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube, er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange; noch drei Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist ... es ist noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen kommen!‹ Ringsumher eine Menge Volk, Geschrei, Lärm, zehntausend Gesichter und Augenpaare – all das muß er ertragen, und das ärgste ist der Gedanke: ›Da sind nun zehntausend Menschen, und keiner von ihnen wird hingerichtet; aber ich werde hingerichtet!‹ Nun, das ist alles erst die Vorbereitung. Auf das