da er doch selbst in stetem Verkehr mit den Kinder lebte! Durch den Verkehr mit Kindern aber wird die Seele gesund ... Es war da im Schneiderschen Institut ein Patient, ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Unglück war ein so furchtbares, daß es kaum seinesgleichen hatte. Er war zur Heilung von Geistesstörung eingeliefert worden; aber nach meiner Meinung war er nicht geistig gestört, sondern litt nur entsetzlich, und das war seine ganze Krankheit. Und wenn Sie nun wüßten, was ihm zuletzt unsere Kinder wurden ...! Aber von diesem Patienten will ich Ihnen lieber ein andermal erzählen; jetzt möchte ich erzählen, wie das alles anfing. Die Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin ..., dazu kam endlich noch, daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen, als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein einziges Mal geküßt ... Nein, lachen Sie nicht!« warf der Fürst hastig ein, um ein Lächeln seiner Zuhörerinnen zu hemmen, »von Liebe war dabei ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es tat. Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak, Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf einem Fleck sitzen mußte. Marie war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon längst hatte sich bei ihr die Schwindsucht zu entwickeln begonnen; aber trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser: sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und nahm sie mit sich fort, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd, kehrte sie wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im Freien übernachtet und sich stark erkältet; ihre Füße waren wund, die Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was stellt das vor? Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich verlegen, und ihr Gesang verstummte dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich behandelt; aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war, da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die sie der Schande preisgab: als man im Dorf hörte, daß Marie zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ergrimmte Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es gegen den Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre. Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten sie, die jungen Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie und verdammten sie und sahen sie mit solcher Verachtung an wie eine ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei, nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals schon sehr krank und dem Tode nahe (zwei Monate darauf starb sie auch wirklich); sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber trotzdem bis zu ihrem Tod nicht mit ihrer Tochter versöhnen; sie redete sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und versorgte ihre Mutter; aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu sagen. Marie ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen; das ist dort so Sitte. Nun bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen; im Dorf aber jagten alle Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben. Alle behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie gar nicht mehr als Weib, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn sie sich sonntags betrunken hatten, des Spaßes halber ein paar Groschen hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. Sie fing schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorf blicken zu lassen; barfuß ging sie schon von ihrer Heimkehr an. Da begann die ganze Kinderschar (es waren über vierzig Schulkinder) sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu werfen. Sie bat den Hirten, er möchte ihr erlauben, die Kühe zu hüten; aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit der Herde auf den ganzen Tag auszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel Nutzen brachte und er dies bemerkte, so trieb er sie nun nicht mehr fort und gab ihr sogar manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot und Käse. Er hielt das für eine große Gnade von seiner Seite. Als die Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie sie war, in ihren Lumpen, am Sarg. Es hatten sich eine Menge Leute eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarg hergehen werde; da wandte sich der Pastor (er war noch ein junger Mann, und sein ganzer Ehrgeiz ging darauf, ein großer Prediger zu werden) an alle Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tod dieser achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter schon seit zwei Jahren krank gewesen war); ›da steht sie vor euch und wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für diejenigen, die vom Pfad der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es ist ihre eigene Tochter!‹, und in dieser Art immer weiter. Und denken Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen; aber ... nun ereignete sich etwas ganz Besonderes: die Kinder traten für Marie ein; denn zu dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab; aber Geld hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte eine kleine Brillantnadel; die verkaufte ich an einen Trödler, der in den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür acht Franken, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Franken und sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte; und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich irgendwelche unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt, weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für eine Schuldbeladene, sondern nur für eine Unglückliche gehalten hätte. Ich wollte sie gern gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie sich gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche; aber sie schien das gar nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl sie fast die ganze Zeit über schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor mir stand und sich furchtbar schämte. Als ich zu Ende war, küßte sie mir die Hand, und ich griff sofort nach der ihrigen und wollte sie ihr küssen; aber sie zog sie schnell weg. In diesem Augenblick erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu pfeifen, in die Hände zu klatschen und zu lachen; Marie aber lief eiligst davon. Ich wollte zu den Kindern etwas sagen; aber sie warfen nach mir mit Steinen. Noch an demselben Tag erfuhren alle, was vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie wieder über Marie her und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß man vorhatte, sie zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank, noch so vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr; sie verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz; sie jagten ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer