hatte. Der Eindruck von vordem war ihm haftengeblieben, und er beeilte sich jetzt, ihn von neuem nachzuprüfen. Dieses durch seine Schönheit und noch durch sonst etwas auffallende Gesicht übte jetzt auf ihn eine noch stärkere Wirkung aus. Ein grenzenloser Stolz, eine grenzenlose Verachtung, die fast wie Haß aussah, lagen in diesem Gesicht und zu gleicher Zeit etwas Zutrauliches, erstaunlich Offenherziges; dieser Kontrast erweckte bei dem, der diese Züge betrachtete, sogar ein gewisses Mitleid. Diese blendende Schönheit war geradezu unerträglich, die Schönheit des blassen Gesichts, der beinah eingefallenen Wangen und der glühenden Augen; eine seltsame Schönheit! Der Fürst betrachtete das Bild wohl eine Minute lang; dann zuckte er auf einmal zusammen, blickte rings um sich, führte das Bild eilig an seine Lippen und küßte es. Als er eine Minute darauf in den Salon trat, war sein Gesicht wieder vollkommen ruhig.
Aber als er in das Eßzimmer gelangte, das noch durch ein Zimmer vom Salon getrennt war, stieß er in der Tür beinah mit der herauskommenden Aglaja zusammen. Sie war allein.
»Gawrila Ardalionowitsch hat mich gebeten, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte der Fürst, indem er ihr das Billett hinreichte. Aglaja blieb stehen, nahm das Billett und blickte den Fürsten seltsam an. In ihrem Blick lag nicht die geringste Verlegenheit, nur ein gewisses Erstaunen mochte daraus hervorschimmern, und auch dieses Erstaunen schien sich nur auf den Fürsten zu beziehen. Aglaja forderte durch ihren Blick von ihm gleichsam Rechenschaft darüber, wie es zuginge, daß er in dieser Angelegenheit mit Ganja im Bunde sei; und sie benahm sich dabei mit aller Ruhe und von oben herab. Zwei oder drei Sekunden lang standen sie einander gegenüber; endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht eine schwache Nuance von Spott; sie lächelte leise und ging vorüber.
Die Generalin betrachtete eine Zeitlang schweigend und mit einem leisen Ausdruck von Geringschätzung Nastasja Filippownas Bild, das sie mit ausgestrecktem Arm sehr weit von den Augen hielt.
»Ja, schön ist sie«, sagte sie endlich, »sogar sehr schön. Ich habe sie zweimal gesehen, aber nur von weitem. Also eine solche Schönheit bewundern Sie?« wandte sie sich plötzlich an den Fürsten.
»Eine solche ... ja ...«, antwortete der Fürst mit einiger Überwindung.
»Gerade eine solche?«
»Ja.«
»Warum denn?«
»In diesem Gesicht ... liegt so viel Leid ...«, sagte der Fürst; es schien, als kämen diese Worte unwillkürlich aus seinem Mund, und als antwortete er nicht auf die Frage, sondern spräche für sich.
»Das ist übrigens vielleicht nur eine Phantasie von Ihnen«, bemerkte die Generalin kurz und warf mit einer hochmütigen Gebärde das Bild von sich weg auf den Tisch.
Alexandra nahm es in die Höhe, Adelaida trat zu ihr, und beide begannen es zu betrachten.
In diesem Augenblick kehrte Aglaja wieder in den Salon zurück.
»Das ist eine gewaltige Macht!« rief auf einmal Adelaida, die über die Schulter ihrer Schwester hinweg das Bild mit größtem Interesse ansah.
»Wieso? Inwiefern eine Macht?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton.
»Eine solche Schönheit ist eine Macht«, erwiderte Adelaida enthusiastisch. »Mit einer solchen Schönheit kann man die Welt umdrehen!«
In ihre Gedanken versunken ging sie zu ihrer Staffelei. Aglaja sah das Bild nur flüchtig an, kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe vor, ging zur Seite und setzte sich da mit zusammengelegten Händen hin.
Die Generalin klingelte.
»Rufe Gawrila Ardalionowitsch her; er ist im Arbeitszimmer«, befahl sie dem eintretenden Diener.
»Aber Mama!« rief Alexandra mit bedeutsamer Betonung.
»Ich will ihm nur wenige Worte sagen, und damit basta!« erklärte die Generalin schnell in bestimmtem, scharfem Ton, der jede Widerrede abschnitt.
Sie befand sich offenbar in gereizter Stimmung.
»Sehen Sie, Fürst, bei uns hier gibt es jetzt lauter Geheimnisse, lauter Geheimnisse! Die Etikette verlangt das, obwohl es eine Dummheit ist. Und noch dazu bei einer Sache, bei der die größte Offenheit, Klarheit und Ehrlichkeit erforderlich ist. Es sind Eheschließungen im Werke; aber diese Ehen wollen mir gar nicht gefallen ...«
»Mama, was reden Sie da?« unterbrach Alexandra sie wieder eilig, um sie von weiteren Äußerungen zurückzuhalten.
»Was willst du, liebe Tochter? Gefallen sie denn dir selbst? Daß der Fürst dabei zuhört, tut nichts; wir sind ja Freunde. Ich und er wenigstens. Es heißt: ›Gott sucht sich Menschen‹, aber natürlich gute Menschen; schlechte und launische kann er nicht gebrauchen, die sich heute so entscheiden und morgen wieder anders reden. Verstehen Sie wohl, Alexandra Iwanowna? Meine Töchter sagen, Fürst, ich sei wunderlich; aber ich habe ein klares, gesundes Urteil. Denn das Herz ist die Hauptsache, und alles übrige ist dummes Zeug. Verstand ist freilich auch nötig, gewiß ... vielleicht ist der Verstand sogar die allergrößte Hauptsache. Lache nicht, Aglaja; ich widerspreche mir nicht: ein Weib mit Herz ohne Verstand ist ebenso unglücklich wie ein Weib mit Verstand ohne Herz. Das ist eine alte Wahrheit. Ich bin ein Weib mit Herz ohne Verstand und du eines mit Verstand ohne Herz; wir sind beide unglücklich und müssen beide viel leiden.«
»Inwiefern sind Sie denn so unglücklich, Mama?« konnte Adelaida sich nicht enthalten zu fragen; sie war anscheinend von der ganzen Gesellschaft die einzige, die ihre heitere Stimmung nicht verloren hatte.
»Erstens weil ich so gelehrte Töchter habe«, trumpfte die Generalin sie auf. »Und da dies eine schon ganz hinreichend ist, so brauche ich das übrige nicht erst lange aufzuzählen. Aber nun genug des Geredes! Wir wollen einmal sehen, wie ihr beide (von Aglaja rede ich nicht) mit eurem Verstand und mit eurer Redekunst euch herauswickeln werdet, und ob Sie, verehrte Alexandra Iwanowna, mit Ihrem geschätzten Herrn Gemahl glücklich sein werden ... Ah!« rief sie, als sie den eintretenden Ganja erblickte, »da kommt noch so ein Ehekandidat. Guten Morgen!« erwiderte sie auf Ganjas Verbeugung, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern. »Sie wollen eine Ehe eingehen?«
»Eine Ehe ...? Wieso ...? Was für eine Ehe ...?« murmelte Gawrila Ardalionowitsch ganz verblüfft.
Er war schrecklich verlegen.
»Sie wollen sich verheiraten? frage ich, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist.«
»N-nein ... ich ... n-nein«, log Gawrila Ardalionowitsch, und Schamröte ergoß sich über sein Gesicht.
Er warf eilig einen Blick auf die abseits sitzende Aglaja und ließ seine Augen schnell wieder weitergleiten. Aglaja sah ihn kalt, gerade und ruhig an, ohne die Augen von ihm abzuwenden, und beobachtete seine Verwirrung.
»Nein? Sie haben nein gesagt?« setzte die unerbittliche Lisaweta Prokofjewna das Verhör beharrlich fort. »Gut, ich werde es mir merken, daß Sie heute, Mittwoch vormittag, auf meine Frage mit nein geantwortet haben. Was haben wir heute für einen Tag – Mittwoch?«
»Ich glaube, Mittwoch, Mama«, antwortete Adelaida.
»Ihr wißt doch nie die Wochentage. Und was für ein Datum?«
»Den siebenundzwanzigsten«, antwortete Ganja.
»Den siebenundzwanzigsten? Das ist nützlich zu wissen wegen einer gewissen Berechnung. Adieu, Sie haben wohl viel zu tun, und für mich ist es Zeit, daß ich mich anziehe und ausfahre; nehmen Sie Ihr Bild wieder mit! Empfehlen Sie mich der unglücklichen Nina Alexandrowna ...! Auf Wiedersehen, mein lieber Fürst! Kommen Sie recht oft wieder her; ich will jetzt expreß zu der alten Bjelokonskaja fahren, um ihr von Ihnen zu erzählen. Und hören Sie, mein Lieber: ich glaube, daß Gott Sie speziell meinetwegen aus der Schweiz nach Petersburg geführt hat. Vielleicht haben Sie hier auch noch anderes zu tun; aber hauptsächlich sind Sie meinetwegen hergekommen. Gott hat es mit Absicht so geordnet ... Auf Wiedersehen, liebe Kinder! Liebe Alexandra, komm du mit mir!«
Die Generalin ging hinaus. Ganja, der ganz verstört, fassungslos und