und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, stiegen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzten sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören; aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoß der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie eine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es hatte ein silbernes Halsband mit einer Inschrift darauf. Ich kümmerte mich um nichts, merkte aber, daß die Damen sich ärgerten, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern; denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können; wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schwiegen ... Auf einmal (und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre) reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug sauste dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das mußte ein tolles Frauenzimmer sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster! Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.«
»Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.
»Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko.
Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!«
»Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.«
»Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!«
»Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig.
»Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!«
»Und Sie?«
Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann:
»Ich ließ mich hinreißen!«
»Haben Sie ihr weh getan? Ja?«
»Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben; aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst sein Spiel: Es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja; und die im schwarzen Kleid, das war die älteste Komtesse Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskischen Hause steht. Alle Komtessen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Komtessen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf.«
»Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich; »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ (ich lese die ›Indépendance‹ ständig) genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Waggon zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!«
Der General wurde sehr rot; auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen; Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte stumme, unerträgliche Qualen durch.
»Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der General, »daß auch mir ganz dasselbe begegnet ist ...«
»Papa hat wirklich Unannehmlichkeiten mit Mrs. Smith, der Gouvernante bei Bjelokonskis, gehabt«, rief Kolja. »Daran erinnere ich mich.«
»Wie! Genau ebenso? Ein und dieselbe Geschichte sollte sich an zwei weit auseinanderliegenden Stellen Europas zugetragen haben, genau übereinstimmend in allen Einzelheiten, mit Einschluß des hellblauen Kleides?« sagte Nastasja Filippowna, unbarmherzig bei diesem Gegenstand beharrend. »Ich werde Ihnen die ›Indépendance Belge‹ zuschicken!«
»Aber beachten Sie wohl«, erwiderte der General, der sich immer noch standhaft verteidigte, »daß es mir zwei Jahre früher passiert ist.«
»Ja, das ist entscheidend!«
Nastasja Filippowna lachte so, daß sie gar nicht wieder aufhören konnte.
»Papa, ich bitte Sie, auf ein paar Worte mit mir hinauszukommen«, sagte Ganja mit zitternder Stimme, der man seine Seelenqual anhörte, und faßte den Vater mechanisch an der Schulter.
Ein grenzenloser Haß loderte in seinem Blick.
In diesem Augenblick ertönte außerordentlich laut die Klingel im Vorzimmer. Bei so gewaltsamem Läuten konnte die Klingel abreißen. Man konnte sich auf einen ungewöhnlichen Besuch gefaßt machen. Kolja lief hin, um zu öffnen.
X
Im Vorzimmer wurde es plötzlich sehr geräuschvoll und lebendig. Vom Salon aus schien es, daß von draußen mehrere Menschen hereingekommen seien und ihnen immer noch andere folgten. Mehrere Stimmen redeten und schrien zugleich; auch auf der Treppe wurde geredet und geschrien; denn die Tür, die vom Vorzimmer dorthin führte, war, wie man hören konnte, nicht wieder geschlossen worden. Es war offenbar ein höchst sonderbarer Besuch. Alle sahen einander an; Ganja eilte nach dem Wohnzimmer; aber auch in das Wohnzimmer drangen schon mehrere Menschen ein.
»Ah, da ist er ja, der Judas!« rief eine Stimme, die dem Fürsten bekannt vorkam. »Guten Tag, Ganja, du Schuft!«
»Ja, das ist er in eigener Person!« bestätigte eine andere Stimme.
Der Fürst konnte nicht daran zweifeln: die eine Stimme war die Rogoschins, die andere die Lebedjews.
Ganja stand wie vor den Kopf geschlagen auf der Schwelle des Salons und sah schweigend und ohne es zu hindern zu, wie hinter Parfen Rogoschin her zehn oder zwölf Menschen einer nach dem andern in das Wohnzimmer eintraten. Die Gesellschaft war sehr buntscheckig und zeichnete sich nicht nur durch ihre Buntscheckigkeit, sondern auch durch ihr seltsames Benehmen aus.
Einige traten so ein, wie sie von der Straße kamen, im Überzieher und Pelz. Ganz betrunken waren diese Leute übrigens nicht; jedoch machten sie sämtlich den Eindruck, daß sie stark angeheitert seien. Sie schienen alle einer des andern zu bedürfen, um den Mut zum Eintritt