Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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      Der Fürst hatte den Salon verlassen und sich auf sein eigenes Zimmer begeben. Unmittelbar darauf kam Kolja zu ihm gelaufen, um ihn zu trösten. Der arme Junge schien sich jetzt gar nicht mehr von ihm losreißen zu können.

      »Sie haben gut daran getan, daß Sie weggegangen sind«, sagte er. »Da wird jetzt der Wirrwarr noch ärger werden, als er bisher war; jeden Tag geht es bei uns so her, und all das hat uns diese Nastasja Filippowna eingebrockt.«

      »Da bei euch hat sich viel Krankheitsstoff angesammelt, lieber Kolja!« bemerkte der Fürst.

      »Jawohl, viel Krankheitsstoff! Aber wir dürfen uns nicht einmal darüber beklagen; wir sind selbst an allem schuld. Ich habe jedoch einen sehr guten Freund; der ist noch unglücklicher. Ist es Ihnen recht, daß ich Sie mit ihm bekannt mache?«

      »Sehr recht ist es mir. Ist er Ihr Schulkamerad?«

      »Ja, beinah mein Schulkamerad. Ich werde Ihnen das alles später erklären ... Aber schön ist Nastasja Filippowna; meinen Sie nicht auch? Ich hatte sie noch nie vorher gesehen, obwohl ich großes Verlangen danach hatte. Sie hat mich geradezu geblendet. Ich würde meinem Bruder alles verzeihen, wenn er sie aus Liebe nähme; aber daß er es um des Geldes willen tut, das ist häßlich!« »Ja, Ihr Bruder gefällt mir nicht sonderlich.«

      »Na, wie wäre das auch möglich! Wie sollte er Ihnen gefallen, nachdem ... Wissen Sie, ich bin empört, daß die Leute über diese Dinge so verschiedener Meinung sind. Irgendein Irrsinniger oder ein Dummkopf oder ein Bösewicht gibt jemandem eine Ohrfeige, und da ist nun der Betreffende für sein ganzes Leben entehrt und kann die Schmach nur durch Blut abwaschen oder dadurch, daß der andre ihn auf den Knien um Verzeihung bittet. Nach meiner Ansicht ist das abgeschmackt, ein despotischer Zwang. Auf dieser Anschauung beruht Lermontows Drama ›Der Maskenball‹, meiner Ansicht nach ein dummes Stück. Das heißt, ich will sagen, ein unnatürliches Stück. Aber er war ja allerdings beinah noch ein Kind, als er es schrieb.«

      »Sehr gut gefällt mir Ihre Schwester.«

      »Wie sie Ganja ins Gesicht gespuckt hat! Ja, Warja ist tapfer! Aber Sie haben ihm nicht ins Gesicht gespuckt, und ich bin doch überzeugt, daß Sie es nicht aus Mangel an Mut unterlassen haben. Aber da ist sie selbst, der Wolf in der Fabel! Ich wußte, daß sie kommen würde; sie hat einen anständigen Charakter, wenn sie auch ihre Fehler besitzt.«

      »Du hast hier nichts zu suchen!« fiel Warja zuerst über Kolja her. »Geh zum Vater! Belästigt er Sie, Fürst?«

      »Durchaus nicht, im Gegenteil.«

      »Na also, was redest du, verehrte ältere Schwester! Das ist gleich so eine häßliche Eigenschaft an ihr. Übrigens dachte ich, der Vater würde bestimmt mit Rogoschin weggehen. Wahrscheinlich bereut er jetzt schon, es nicht getan zu haben. Ich will mal zusehen, wie es mit ihm steht«, fügte Kolja hinzu und ging hinaus.

      »Gott sei Dank, ich habe Mama fortgebracht und veranlaßt, sich ins Bett zu legen, und es ist nichts Weiteres vorgekommen. Ganja ist verlegen und sehr nachdenklich. Und er hat auch allen Grund dazu. Was hat er da für eine Lehre erhalten ...! Ich bin hergekommen, um Ihnen noch einmal zu danken, Fürst, und Sie zu fragen: hatten Sie Nastasja Filippowna vorher noch gar nicht gekannt?«

      »Nein, noch gar nicht.«

      »Wie kommen Sie dann dazu, ihr gerade ins Gesicht zu sagen, daß das nicht ihr wahres Wesen sei? Und Sie haben, wie es scheint, damit das Richtige getroffen. Sie ist vielleicht wirklich eine andere, als sie scheinen wollte. Übrigens werde ich nicht aus ihr klug. Sie beabsichtigte sicherlich, uns zu beleidigen; das ist klar. Ich habe auch früher schon manches Seltsame über sie gehört. Aber wenn sie hergekommen war, um uns einzuladen, wie konnte sie sich dann zuerst gegen Mama so benehmen? Ptizyn kennt sie ganz genau; aber er sagt, er habe ihr Verhalten vorhin auch nicht verstehen können. Und wie benahm sie sich gegen Rogoschin? So darf man doch nicht reden, wenn man irgendwelche Selbstachtung besitzt, noch dazu im Hause des eigenen ... Mama ist ebenfalls um Sie sehr beunruhigt.«

      »Es hat nichts auf sich«, erwiderte der Fürst mit einer geringschätzigen Handbewegung.

      »Und wie sie Ihnen gehorchte ...«

      »Inwiefern gehorchte?«

      »Sie sagten ihr, sie solle sich schämen, und darauf änderte sie sofort ihr ganzes Benehmen. Sie üben auf sie einen gewaltigen Einfluß aus, Fürst«, fügte Warja mit einem leisen Lächeln hinzu.

      Die Tür öffnete sich, und ganz unerwartet trat Ganja ein.

      Er wurde in seinem Entschluß nicht einmal wankend, als er Warja erblickte; nachdem er eine kleine Weile auf der Schwelle gestanden hatte, ging er entschlossen auf den Fürsten los.

      »Fürst, ich habe mich unwürdig benommen; verzeihen Sie mir, liebster Freund!« sagte er mit wahrer Empfindung.

      Seine Gesichtszüge drückten einen starken Schmerz aus. Der Fürst sah ihn erstaunt an und antwortete nicht sogleich.

      »Nun, verzeihen Sie mir doch, verzeihen Sie mir doch!« drängte Ganja ungeduldig. »Wenn Sie es verlangen, küsse ich Ihnen sofort die Hand!«

      Der Fürst war außerordentlich überrascht und umarmte Ganja schweigend. Beide küßten einander herzlich.

      »Ich hätte nie, nie gedacht, daß Sie ein solcher Mensch sind«, sagte der Fürst endlich, nur mühsam Atem holend. »Ich meinte, Sie seien ... dessen nicht fähig.«

      »Einer Bitte um Verzeihung ...? Wie bin ich nur heute dazu gekommen, Sie für einen Idioten zu halten! Sie bemerken vieles, was andere Menschen niemals beachten. Ich könnte mit Ihnen etwas besprechen; aber ... es ist doch wohl besser, wenn ich es nicht tue!«

      »Da ist noch jemand, bei dem Sie sich entschuldigen sollten«, sagte der Fürst, auf Warja weisend.

      »Nein, die sind nun einmal meine Feinde. Glauben Sie mir, Fürst, ich habe oft versucht, unser Verhältnis zu bessern; aber aufrichtige Verzeihung sucht man da vergebens!« rief Ganja heftig.

      Er wandte sich von Warja ab, so daß er ihr die Seite zukehrte.

      »Nicht doch, ich verzeihe dir«, sagte Warja plötzlich.

      »Und wirst du heute abend zu Nastasja Filippowna kommen?«

      »Wenn du es verlangst, werde ich hinkommen; aber überlege selbst, ob ich nach dem Vorgefallenen überhaupt eine Möglichkeit habe, dort zu erscheinen.«

      »Sie ist ja doch nicht so, wie sie sich gab. Du siehst ja, sie will einem immer Rätsel aufgeben! Spiegelfechterei!«

      Ganja lächelte boshaft.

      »Ich weiß selbst, daß sie nicht so ist und daß sie Spiegelfechterei treibt; aber was für welche! Und dann bedenke noch eines, Ganja: wofür hält sie dich selbst? Mag auch vieles an ihrem Benehmen nur Spiegelfechterei sein, und mag sie auch Mama die Hand geküßt haben: aber sie hat sich doch über dich lustig gemacht! Das wird durch die fünfundsiebzigtausend Rubel nicht aufgewogen, Bruder, wahrhaftig nicht! Du bist noch anständiger Empfindungen fähig; darum sage ich dir das. Fahre du doch auch selbst nicht hin! Hüte dich vor ihr! Das kann nicht gut ausgehen!«

      Nach diesen Worten verließ Warja schnell in großer Aufregung das Zimmer.

      »So sind meine Mutter und meine Schwester immer!« sagte Ganja lächelnd. »Ob sie wirklich denken, daß ich das nicht auch selbst weiß? Ich weiß es sogar weit besser als sie.«

      Als Ganja das gesagt hatte, setzte er sich auf das Sofa mit dem offensichtlichen Wunsch, seinen Besuch noch länger auszudehnen.

      »Wenn Sie das selbst wissen«, fragte der Fürst recht schüchtern, »warum haben Sie sich dann zu einer solchen Marter entschlossen, von der Sie selbst glauben, daß sie durch fünfundsiebzigtausend Rubel tatsächlich nicht aufgewogen wird?«

      »Davon möchte ich nicht reden«, murmelte Ganja. »Aber apropos,