Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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indem er die fünfundzwanzig Rubel nahm und in die Tasche steckte, »sondern gerade um Sie zu einem gemeinsamen Besuch bei Nastasja Filippowna oder, besser gesagt, zu einem gemeinsamen Feldzug gegen Nastasja Filippowna aufzufordern! General Iwolgin und Fürst Myschkin! Was wird sie dazu für ein Gesicht machen! Mit Rücksicht auf ihren Geburtstag werde ich in liebenswürdigster Form schließlich doch meinen Willen zum Ausdruck bringen, indirekt, nicht so geradeheraus; aber die Wirkung wird dieselbe sein, wie wenn ich geradeheraus spräche. Dann mag Ganja sich selbst entscheiden, wie er sich verhalten will: auf der einen Seite sein Vater, ein hochverdienter und ... sozusagen ... und so weiter, auf der andern Seite ... Aber was kommen muß, das komme! Ihr Gedanke ist außerordentlich vielversprechend. Um neun Uhr wollen wir uns hinbegeben; wir haben noch Zeit.«

      »Wo wohnt sie denn?«

      »Weit von hier: beim Großen Theater, im Haus der Frau Mytowzowa, fast auf dem Platz selbst, in der Beletage. Es wird keine große Gesellschaft da sein, obwohl es ihr Geburtstag ist, und die Gäste werden frühzeitig aufbrechen ...«

      Es war schon längst Abend; der Fürst saß noch immer da und wartete darauf, daß der General aufstehen würde; aber dieser begann eine endlose Menge von Anekdoten zu erzählen, ohne eine einzige zu Ende zu bringen. Bei der Ankunft des Fürsten hatte er sich eine neue Flasche geben lassen, die er erst nach einer Stunde geleert hatte; dann hatte er noch eine dritte verlangt und auch diese ausgetrunken. Man kann sich leicht denken, daß der General dabei Zeit gefunden hatte, fast seine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Endlich stand der Fürst auf und erklärte, er könne nicht länger warten. Der General trank den letzten Rest aus seiner Flasche aus, erhob sich und verließ mit sehr unsicheren Schritten das Zimmer. Der Fürst war in Verzweiflung. Es war ihm jetzt unbegreiflich, wie er hatte so dumm sein können, auf diesen Menschen sein Vertrauen zu setzen. In Wirklichkeit hatte er ja auch nie sein Vertrauen auf ihn gesetzt; er hatte nur insofern auf den General gerechnet, als er gehofft hatte, durch dessen Beihilfe Einlaß bei Nastasja Filippowna zu finden, wenn auch mit etwas unangenehmem Aufsehen; aber er hatte nicht erwartet, daß der General sich in einem derartig skandalösen Zustand befinden werde: Er war völlig betrunken, entwickelte eine große Redseligkeit und sprach ohne Unterbrechung in sehr gefühlvoller, ja weinerlicher Weise. Sein Thema war dabei fortwährend dieses: durch das schlechte Benehmen all seiner Familienmitglieder sei alles zugrunde gegangen, und es sei endlich Zeit, dem ein Ende zu machen. Endlich traten sie auf die Litejnaja-Straße hinaus. Das Tauwetter dauerte noch fort; ein bedrückender, warmer, feucht riechender Wind pfiff durch die Straßen; die Kutschen platschten im Schmutz; die Hufschläge der Traber und Karrengäule ertönten mit hellem Klang auf dem Pflaster. Die Fußgänger wanderten trübselig und durchnäßt die Trottoirs entlang. Man begegnete einzelnen Betrunkenen.

      »Sehen Sie wohl diese erleuchteten Beletagen?« sagte der General. »Hier wohnen überall meine Kameraden, und ich, der ich am längsten von ihnen gedient und am meisten durchgemacht habe, ich schleppe mich zu Fuß nach dem Großen Theater in die Wohnung eines zweideutigen Frauenzimmers! Ein Mann, der dreizehn Kugeln in der Brust hat ... Sie glauben es nicht? Und doch hat einzig um meinetwillen Pirogow nach Paris telegraphiert und seine Aufmerksamkeit dem belagerten Sewastopol eine Zeitlang entzogen, und Nélaton, der Pariser Hofarzt, hat sich im Namen der Wissenschaft freies Geleit verschafft und ist in das belagerte Sewastopol hereingekommen, um mich zu untersuchen. ›Ach, das ist jener Iwolgin, der dreizehn Kugeln im Leibe hat!‹, so reden die Leute von mir. Sehen Sie wohl dieses Haus hier, Fürst? Hier wohnt in der Beletage ein alter Kamerad von mir, General Sokolowitsch, mit seiner zahlreichen, prächtigen Familie. Dieses Haus und noch drei Häuser auf dem Newski-Prospekt und zwei in der Morskaja-Straße, die bilden jetzt meinen ganzen Bekanntenkreis. Wenn ich sage ›meinen‹, so bezieht sich das nur auf meine eigene Person; Nina Alexandrowna hat sich schon längst den Verhältnissen gefügt. Aber ich gebe mich immer noch in der gebildeten Gesellschaft meiner ehemaligen Kameraden und Untergebenen, die mich bis auf den heutigen Tag vergöttern, meinen Erinnerungen hin und finde da sozusagen meine Erholung. Dieser General Sokolowitsch ... ich bin übrigens schon lange nicht mehr bei ihm gewesen und habe Anna Fjodorowna geraume Zeit nicht gesehen ... wissen Sie, lieber Fürst, wenn man selbst nicht mehr empfängt, dann hört man auch unwillkürlich auf, bei anderen Besuche zu machen. Indessen ... hm ...! Sie scheinen mir nicht zu glauben ... Übrigens, warum sollte ich den Sohn meines besten Freundes und Jugendgespielen nicht in diese entzückende Familie einführen? General Iwolgin und Fürst Myschkin! Sie werden ein reizendes junges Mädchen kennenlernen, oder vielmehr nicht eines, sondern zwei, ja drei, die Zierden der Residenz und der vornehmen Gesellschaft: Schönheit, Bildung, moderne Richtung ... Frauenfrage, Poesie, all das hat sich bei ihnen zu einer glücklichen, bunten Mischung vereinigt, ganz abgesehen von den achtzigtausend Rubeln Mitgift in barem Geld für eine jede von ihnen, was trotz aller Frauenfragen und sozialen Probleme niemals schaden kann ... mit einem Wort, ich fühle mich unbedingt verpflichtet und verbunden, Sie einzuführen. General Iwolgin und Fürst Myschkin! Mit einem Wort ... das macht Eindruck!«

      »Jetzt? Jetzt gleich? Aber Sie haben vergessen ...«, begann der Fürst.

      »Nichts, nichts habe ich vergessen! Wir wollen hingehen! Hier diese prachtvolle Treppe hinauf! Ich wundere mich, daß kein Portier da ist; aber freilich ... es ist ein Feiertag, und da hat sich der Portier absentiert. Sie haben diesen Trunkenbold immer noch nicht weggejagt. Dieser Sokolowitsch verdankt das ganze Glück seines Lebens und seiner Karriere mir, mir allein und sonst niemandem. Aber ... da sind wir schon!«

      Der Fürst erhob keine Einwendungen mehr gegen den Besuch und folgte dem General gehorsam, um ihn nicht zu reizen, in der festen Hoffnung, daß General Sokolowitsch und seine ganze Familie allmählich wie eine Luftspiegelung verschwinden und sich als nicht existierend erweisen würden, so daß sie dann ruhig die Treppe wieder hinuntersteigen könnten. Aber zu seinem Schrecken mußte er diese Hoffnung aufgeben: der General führte ihn die Treppe hinauf wie jemand, der da wirklich Bekannte hatte, und schaltete alle Augenblicke detaillierte Bemerkungen biographischen und topographischen Inhalts ein, die den Eindruck mathematischer Genauigkeit machten. Als sie endlich in der Beletage angelangt waren und rechts vor der Eingangstür einer prächtigen Wohnung haltmachten und der General nach dem Griff der Klingel faßte, da beschloß der Fürst, davonzulaufen; aber ein sonderbarer Umstand hielt ihn noch einen Augenblick zurück. »Sie haben sich geirrt, General«, sagte er; »hier an der Tür steht der Name Kulakow, und Sie wollten doch bei Sokolowitsch klingeln.«

      »Kulakow ... Kulakow beweist nichts. Das ist Sokolowitschs Wohnung, und ich klingle bei Sokolowitsch. Ich schere mich den Teufel um Kulakow ... Da wird schon geöffnet.«

      Die Tür öffnete sich wirklich. Ein Diener schaute heraus und meldete, die Herrschaften seien nicht zu Hause.

      »Wie schade, wie schade! Daß wir es so schlecht getroffen haben!« wiederholte Ardalion Alexandrowitsch mehrere Male hintereinander mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns. »Bestellen Sie, lieber Freund, daß General Iwolgin und Fürst Myschkin gewünscht hätten, den Herrschaften ihre besondere Hochachtung zu bezeigen und außerordentlich, außerordentlich bedauert hätten ...«

      In diesem Augenblick schaute aus einem der Zimmer durch die geöffnete Eingangstür noch ein anderes Gesicht heraus, anscheinend das Gesicht einer Wirtschafterin oder vielleicht auch Gouvernante, einer etwa vierzigjährigen Dame in einem dunklen Kleid. Als sie die Namen des Generals Iwolgin und des Fürsten Myschkin hörte, näherte sie sich neugierig und mißtrauisch.

      »Marja Alexandrowna ist nicht zu Hause«, sagte sie, indem sie besonders den General scharf ansah; »sie ist mit dem gnädigen Fräulein Alexandra Michailowna zur Großmutter gefahren.«

      »Auch Alexandra Michailowna ist mit ihr aus! O Gott, wie bedauerlich! Und denken Sie sich nur, Madame, solch Mißgeschick habe ich immer! Ich bitte Sie ganz ergebenst, meine Empfehlung auszurichten und an Alexandra Michailowna zu bestellen, sie möchte sich erinnern ... mit einem Wort, sagen Sie ihr, ich wünschte ihr von Herzen das, was sie selbst sich am Donnerstagabend bei den Klängen des Chopinschen Liedes gewünscht habe; sie wird sich schon erinnern ... Das sei mir ein Herzenswunsch! General Iwolgin und Fürst Myschkin!«

      »Ich werde es nicht vergessen«, versetzte, den Abschiedsgruß erwidernd, die Dame, die etwas mehr Vertrauen zu den Besuchern gewonnen