Paul kichert noch mehr. „Findest du nicht, dass dir Schlaghosen ausgesprochen gut stehen würden?“ Das breite, neckische Grinsen kennt Felix nur zu gut und spöttisch erwidert er: „Wenn du schon wieder den Jazzclub-Gedanken im Kopf hast, muss ich dir leider mitteilen, dass das eine im höchsten Maße rassistische Äußerung ist, die ich umgehend melden werde. Außerdem spielen auch weiße Menschen Trompete und tragen Schlaghosen.“ Paul hält sich gespielt seine Hand vor den Mund. „Okay, dann lass dich mal zu diesem Thema ausgiebig beraten und teile mir dann mit, was dir empfohlen wurde.“ Die beiden sehen sich an und fast gleichzeitig fangen sie an laut zu prusten.
Etwas später, als sich die heitere Stimmung wieder gelegt hat und die Realität wie ein Schlag ins Gesicht zurückkehrt, fällt ein tiefer Schatten auf Pauls Gesicht und auch Felix’ herzhaftes Lachen erstickt. „Ist es wahr Paul? Hat die Regierung es wirklich getan? Haben sie den Autobau verboten? Das können sie doch nicht Paul, oder? Ich meine, die gesamte Wirtschaft und die ganzen Arbeitsplätze? Was soll denn jetzt aus uns werden?“ Die Besorgnis, die sich auf Pauls Gesicht breitmacht, spricht Bände und die einzige Antwort, die er Felix an diesem Tag noch gibt, bevor sein Blick wieder am Horizont festhält, schießt Felix so in die Knochen, dass er sich auf das trockene Gras fallen lässt und sich wünscht es nie mehr verlassen zu müssen. „Nein Felix, sie haben nicht verboten, dass Autos gebaut werden dürfen, sie haben den gesamten Beförderungsmittelbau verboten. Das heißt, es werden keine Containerschiffe, keine Flugzeuge, keine Kranken- oder Polizeiwagen und keine Elektroautos oder Hubschrauber mehr gebaut. Die gesamte Verkehrsmittelproduktion wurde gerade verboten und wir können vorerst nichts tun, um dies zu verhindern.“
4. Rügen, Deutschland
Die Tierkäfige, mit den zahlreichen Käfern und Reptilien, die seit diesem Jahr als neues Highlight auch Kaninchen beherbergen, befinden sich im Biologieflügel, neben der Eingangshalle. Beim Durchqueren der kleinen Halle steigt Evelin der Geruch von Nudeleintöpfen und Kartoffelsalaten in die Nase. Von dem Geruch magisch angezogen, wandert ihre Nase in Richtung der Mensa. Ihr Magen, der zu diesem Zeitpunkt, laut eigenem Ermessen, deutlich zu wenig Nahrung bekommen hat, erinnert sie unsanft an das geballte Loch, das nun in ihm klafft. Evelin, die mit einer Hand die Tür zum Biologieflügel aufzieht, um ihrer Freundin und ihr Eintritt zu gewähren, streicht mit der freien Hand besänftigend über ihren Bauch und versucht den immer noch laut knurrenden Magen erneut zum Schweigen zu bringen. So richtig zu gelingen scheint ihr das jedoch nicht, denn nur wenige Sekunden später reicht ihr Lila wortlos einen Müsliriegel mit der Aufschrift „Sie werden Ihr lila Wunder erleben.“ Sie wirft ihrer Freundin ein gequältes Lächeln entgegen und schält den mit lila Glasur überzogenen Riegel aus seiner Verpackung. „Willst du auch was?“, fragt sie schmatzend ihre Freundin, die sich gerade daranmacht, die Tür zu den Käfigen aufzuschließen. Dankend winkt Lila ab und der restliche Riegel verschwindet in Evelins Mund. „Kann ich mal dein Handy haben?“ Evelin nickt und reicht Lila den kleinen stromlinienförmigen Gegenstand. Lila lässt ihn in ihre Hand gleiten und tippt mit einer Hand und flinken Fingern ihre Nachricht in das Gerät. „Ich wollte meinem Vater nur kurz schreiben, dass wir nach Hause laufen müssen, er sich also keine Sorgen macht, wenn ich später komme. Im Übrigen hast du zwölf neue Nachrichten von Kaleo. Keine Ahnung, was da zwischen euch gelaufen ist, aber er scheint dich sehr dringend sprechen zu wollen.“ Lila beugt sich zu Evelin hinüber, deren Gesicht errötet. Schnell packt sie das Gerät und dreht sich zu einem der Terrarien um, um den neugierigen Augen ihrer Freundin zu entgehen. Vorsichtig betrachtet sie das Gerät, als würde es nicht ihr gehören, das kleine Display, das sich oberhalb der Ellipse in einem Bogen erstreckt, und das darunterliegende Glasfeld, das die Sicht auf die darunterliegenden Zahlenblöcke ermöglicht. Das Handy schmiegt sich perfekt ergonomisch in ihre Handfläche. Eine Erinnerung schiebt sich in ihren Kopf, die sie immer noch schmunzeln lässt. Sie erinnert sich nur noch vage an den Tag, als das damals neuartige Gerät auf den Markt kam. Sie muss so um die vier Jahre alt gewesen sein, weswegen die Erinnerung nur verschwommen vor ihr liegt. An eine Sache erinnert sie sich aber so glasklar, als wäre es gerade gestern gewesen. Damals war sie mit ihrem Vater in das einzige Technikgeschäft der Stadt gefahren, um das neuartige Handy in Augenschein zu nehmen, das so eine Sensation in den Medien ausgelöst hatte. Sie würde das laute Lachen nie vergessen, als ihr Vater den stromlinienförmigen Gegenstand zum ersten Mal in den riesigen Händen hielt und mit konzentriertem Blick versuchte seine Telefonnummer in den auf der Unterseite liegenden Ziffernblock einzutippen, ohne das Gerät dabei aus der Hand gleiten zu lassen. „Ein Handy, das nur mit einer Hand zu bedienen ist und Ihnen dank ergonomischer Form eine mühelose Bedienung ermöglicht. Durch die kleine Kugel an der Vorderseite wird Ihnen die Bedienung auf dem Display noch leichter fallen, als Sie das von handelsüblichen Geräten kennen, außerdem verteilen sich die fünf Finger Ihrer Hand optimal über das Gerät.“ Nachdem der Verkäufer seinen anwerbenden Spruch heruntergerasselt hatte und dabei in seinem Gesicht eine solche Begeisterung ausstrahlte, als hinge sein Leben davon ab, versuchte er die riesigen Finger ihres Vaters so auf dem Gerät zu verteilen, dass er die mühelose Bedienung auch verstand. Während Evelins Vater nun mit dem Daumen an der kleinen Kugel spielte, balancierten seine restlichen vier Finger das Gerät und tippten hie und da mal eine Zahlenfolge in den Ziffernblock. Die Konzentration trieb ihm dabei den Schweiß auf die Stirn.
Beim Verlassen des Ladens musste Evelins Vater immer noch herzhaft darüber lachen und erst am Auto angekommen hatte er sich wieder so weit unter Kontrolle, dass er Evelin beim Öffnen der Autotür noch seine Meinung mitteilen konnte. „Dieser Unsinn wird niemals Erfolg haben“, war das Einzige, was er noch herausbrachte, bevor er sich wieder vor Lachen krümmte.
Dass nun in der Gegenwart quasi jeder eines dieser Geräte besitzt und dem damals noch einfachen Kunststoff Geräte aus Glas, Metall und Holz folgten, konnte Evelins Vater ja wirklich nicht ahnen. Selbst das Problem der Größe hatte sich ein Jahr später bereits gelöst, da mit der neuen Generation auch mehrere Größen auf den Markt kamen. Evelins Vater verweigerte dennoch jegliche Nutzung und behielt sein altes, viel zu großes, flaches Smartphone bis heute. Noch jetzt ist sich Evelin sicher, dass die Abneigung ihres Vaters gegen alles Neuartige an diesem Tag geboren wurde.
Evelins Finger gleiten sanft über die kleine Kugel und schieben dabei eine Nachricht nach der anderen über das Display. „Wo bist du?“, „Ist was passiert?“, „Soll ich vielleicht schon mal reingehen?“, „Bin jetzt reingegangen, schalte mein Handy aber nicht aus“, „Der Film ist blöd ohne dich“, „Mache mir langsam Sorgen“, „Ist dein Akku leer?“, „Der Film ist jetzt rum“, „Soll ich vor dem Kino warten?“, „Fahre jetzt nach Hause, bitte melde dich“, „Bin zu Hause angekommen, keine Ahnung, was mit dir los ist Evelin, ich hoffe du hast eine gute Erklärung dafür“, „Bitte melde dich bei mir, wenn du diese Nachrichten liest!“ Evelins Herz pocht so heftig, als wolle es ihren Brustkorb verlassen und sich nun in ihrem Hals ein neues Zuhause suchen. Sie wollte diese Nachrichten bewusst ungelesen lassen, aber nun, da sie durch Lila entdeckt wurden, scheinen sie bereits offenbart zu sein.
Nachdem auch die letzte Nachricht vom Display verschwunden ist, schallen die gelesenen Worte in ihrem Kopf wieder. „Bitte melde dich.“ Immer wieder schieben sich die Sätze vor ihre Augen und auch durch heftiges Blinzeln lassen sie sich nicht aus ihren Gedanken verbannen. „Bitte melde dich.“ „Ist dir aufgefallen, dass Kaleo heute gar nicht in der Schule war?“ Die Frage ihrer Freundin lässt Evelin so heftig zusammenfahren, als hätte ihr jemand einen Dolch von hinten zwischen die Schulterblätter gerammt, dabei rutscht ihr das Handy aus der Hand. Als das kleine Gerät auf dem Fliesenboden aufprallt und unter einem der Käfige zum Liegen kommt, meldet sich eine stockende Stimme zu Wort. „Nachrichten gelöscht.“ Evelin, die sich hinter ihrem Handy her greifend mit zu Boden geworfen hat, starrt mit entsetztem Gesicht auf das Display, das jetzt nur noch „Keine neuen Nachrichten“ anzeigt.
„Evelin, ist wirklich alles okay?“ Verwundert streicht Lila ihrer Freundin über den Rücken, nachdem diese sich auf einem der viel zu kleinen Stühle niedergelassen hat, die den Raum füllen. „Ehrlich Evelin, du erzählst mir doch sonst auch immer, was los ist, und jetzt sag mir bitte nicht wieder, dass nichts ist, das kannst du vielleicht den Käfern