Sie noch dran.“ Paul nahm den Hörer vom Ohr, um sich zu vergewissern, dass die Leitung noch stand, danach zog er das Gerät wieder ans Ohr. „Ja, ich bin noch dran.“ Es schien, als wäre auf der anderen Seite der Leitung ein Sturm losgebrochen, immer lauter wurden die Rufe und das Poltern im Hintergrund und Marcel Kron, der nun noch leiser sprach, als wollte er nicht, dass jemand mithörte, war kaum noch zu verstehen. „Dieser Paragraf“, wieder ein Poltern, dann kamen nur noch einzelne Sätze, „… durchbekommen …, Absatz …, Zusammenschluss …, das Ende …, Dukjon …, kann nicht …“ Dann war es still und nur noch das Freizeichen war zu hören. Verwirrt über das abrupte Ende des Gesprächs drückte Paul auf die Rückruftaste. Nach kurzem Warten ging sofort der Anrufbeantworter dran. Paul schüttelte den Kopf, er konnte sich auf diesen Anruf einfach keinen Reim machen, er nahm einen großen Schluck aus der in seinen Händen winzig wirkenden Tasse und dann die Treppe, die ihn zu seinem Büro führte.
Der nächste Moment, den Paul in seinem immer noch wild umhertanzenden Gedanken zusammenfassen kann, fand im Büro statt. Auf dem kleinen Computerbildschirm erschien in der unteren rechten Ecke ein Hinweis, dass in Kürze ein Fax zu ihm durchgestellt werden würde. Genervt rollte Paul mit den Augen. „Wer in Gottes Namen schickt außer mir denn heute noch ein Fax?“, fragte er sich, während er sich schwerfällig erhob, um sich an dem nun stark wankenden Garderobenständer vorbei nach draußen zu schieben. Das Faxgerät stand zusammen mit dem Drucker und den Kopierern in einem Raum, der sich unterhalb der Treppe, neben dem Pausenraum mit den Kaffeemaschinen, befand. An manchen Tagen nervte es ihn, dass er für jede Kopie, für jeden Ausdruck, nach unten laufen musste, aber sein kleines Büro bot einfach nicht den Platz für die riesigen Geräte, und Bewegung war, seit er den Bürojob hatte, erstaunlich wichtig geworden. Beim Durchqueren der immer offen stehenden Tür flog Paul bereits der Geruch von frischem Papier und Tonerpatronen entgegen. Alle Geräte waren ausgeschaltet und machten, außer dem leisen Rauschen der Kühlanlagen, keine Geräusche. Paul schritt an den drei Faxgeräten vorbei und überprüfte sie nach dem angezeigten Fax. Als er alle Geräte noch einmal auf Papier und Tonerstand überprüft hat, lehnte er sich gegen den großen Kopierer, der unter seinem Gewicht verächtlich knackte, und genoss die Ruhe, die ihm das Warten schenkte. Nach einer Weile begann das mittlere Gerät zu surren und spuckte kurz darauf das Dokument aus, das, sobald Paul es in den Händen halten würde, all diese furchtbaren Dinge in Kraft treten lassen würde. Doch das wusste Paul nicht, also stieß er sich mit einer Hand vom Kopierer ab und griff beiläufig nach dem immer noch warmen Papier. Schnell flogen seine Augen über das Fax und wurden von Zeile zu Zeile langsamer und langsamer, bis sie jeden Buchstaben auf seine Richtigkeit überprüft hatten. Als Paul den Brief zum sechsten Mal gelesen hatte und an den gelesenen Worten wirklich kein Zweifel bestand, ließ er das Papier langsam sinken und starrte für eine schiere Ewigkeit ins Nichts vor ihm. Dann plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein bremsenversagender Güterzug und die Erinnerung von jener Weihnachtsfeier kam zurück. Marcel Kron war der stellvertretende Geschäftsführer von Dukjon und was er Paul da sagen wollte, war, dass der § 4253 seinen ersten Absatz hatte, der nun in Kraft treten sollte. Auch die zahlreichen Kollegen, die Paul an jenem Vormittag noch anrief, hatten denselben unheilvollen Brief erhalten. Von Gespräch zu Gespräch wurde Pauls Miene finsterer und als er das letzte Gespräch beendet hatte, brodelte in Paul eine Wut, die er selbst von sich nicht erwartete. Da wusste er, dass es nun das Ende sein würde, er hat gewusst, dass es kommen würde, seit Jahren hatten sie darauf hingearbeitet. Er war das Lügen überall hier satt, nun würde er es endlich nicht mehr verheimlichen müssen, nun würden alle davon erfahren. Trotzdem musste er seine Rolle weiterspielen, so überzeugender, umso besser. „Dreiunddreißig Jahre!“, schrie er, „dreiunddreißig Jahre und dann das!“ Er zerknüllte den Brief und zerquetschte ihn so sehr in seiner Faust, dass er nur noch ein kleiner unförmiger Papierball war, dann raste er am Pausenraum vorbei, in dem sein Freund sich gerade einen Kaffee zog. Die Treppen erreicht, nahm er immer drei Stufen gleichzeitig und als er vor seinem Büro war, bekam er gerade noch im Laufen die kleine blaue Tür zu fassen und zog sie mit solcher Gewalt ins Schloss, dass die kleinen Fenster, die in der Tür eingelassen waren, zerbarsten.
Vorsichtig öffnet Paul die Augen und mit dem Öffnen der Augenlider kommt auch der tosende Lärm zurück, den er versucht hat zu verdrängen. Er hört die lauten Rufe der Arbeiter vor sich, die empörten und verwirrten Schreie, die nach Antworten verlangen, die er nicht zu geben vermag. Langsam gewöhnen sich seine Augen wieder an das Licht, und die immer noch wild umhertanzenden Punkte vor seiner Netzhaut verschwinden, so dass er die Traube von Menschen nun auch sehen kann, die sich vor der Treppe versammelt hat und zu dem auf der vorletzten Stufe stehenden Paul aufblickt. „Was wollen Sie damit sagen?“, „Sind wir jetzt alle gekündigt?“, „Von wem bekommen wir denn jetzt unser Geld?“, „Mann Paul, du warst mal einer von uns! So was unterstützt du doch nicht?“, „Wir können das nicht glauben!“, „Ist das der einzige Absatz?“ Felix, der sich drei Stufen unter Paul befindet und mit ein paar anderen versucht die Menge davon abzuhalten die Treppe nach oben zu stürmen, schaut ebenfalls mit fragendem Blick in seine Richtung. Auch er hat so viele Fragen, die er beantwortet haben will. Wieder beginnt das Bild der wütenden Arbeiter vor Pauls Augen zu verschwimmen, diesmal widersteht er aber dem Drang die Augen zu schließen und hebt beschwichtigend seine großen Arme, um der Meute Ruhe zu gebieten. Leider scheint es, als würden die aufgebrachten Arbeiter das nur als eine Aufforderung nehmen noch lauter zu schreien und sich noch heftiger in den menschlichen Zaun vor Paul zu drücken. Felix, auf dessen Gesicht jetzt weniger Fragen als vielmehr Angst zu erkennen ist, versucht immer verzweifelter die Menge fortzudrücken, weg von seinem Freund, der allein und verloren auf der Stufe steht. Wenn Paul nicht in den nächsten paar Sekunden etwas unternimmt, würde es zu spät sein. Wieder ist da diese Wut, die Paul nicht kennt, eine Wut, die so gar nicht zu dem immer freundlichen und sanften Mann passen will, der er normalerweise ist. Von der Wut geführt schreit er, so laut er kann: „Ruhe!“ Die zuvor noch tosende, schreiende Menge verstummt sofort, die gesamte Werkshalle scheint nach diesem Schrei zu beben und den Schall immer wieder von den Wänden vorzustoßen und zurückzuwerfen, bis er nur noch in den Ohren der Männer und Frauen widerschallt, die nun, wie eine zurechtgewiesene Schulklasse, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, zu ihm aufblicken. Paul, der, von seinem eigenen Schrei überrascht, jetzt doch die Augen geschlossen hat, um die Ruhe zu genießen, die sich so plötzlich vor ihm erstreckt, sammelt sich erneut, um seinen weiteren Worten einen festen Klang zu geben. Dann richtet er sich zu seiner vollen Größe auf, hebt seinen Kopf, mit dem er jetzt fast die Decke berührt, und beginnt zu sprechen. „Ich weiß, dass das für euch alle ein Riesenschock sein muss. Ihr könnt mir glauben, wenn ich euch sage, dass es auch für mich vollkommen unerwartet kam. Ich weiß nach wie vor nicht, ob dieser Paragraf nur unser Land betrifft oder ob es auch andere Länder erwischt hat und ja, ich war mal einer von euch, aber wer sagt, dass ich das nicht mehr bin? Ich bin sogar mehr einer von euch, als ich das jemals war. Wir stecken da alle drin, ihr seid nicht die Einzigen, die zu Hause ihre Ehepartner und Kinder sitzen haben. Trotzdem kann ich im Moment auch nicht mehr sagen als das, was in dem Brief steht, den die meisten von euch erhalten haben.“ Paul hält seinen Blick in die Menge gerichtet, versucht bemüht seinen Arbeitern die Sicherheit zu schenken, nach der sie sich so sehr sehnen. Ein paar starren traurig und beschämt auf den Boden oder an die geschlossenen Deckenfenster, ein paar andere drehen sich mit einer abfälligen Handbewegung zum Gehen, aber es sind nicht diese, bei denen Paul plötzlich so ein komisches Gefühl hat, es sind die paar, die seinen Blick standhaft erwidern, die ihm einen Schauer über den Rücken jagen. Dann, vollkommen unerwartet, schreit einer, der weiter hinten gestanden hat, in die drückende Stille hinein: „Was willst du uns da erzählen, du hast doch gar keine Ahnung, wie wir uns fühlen, du sitzt tagtäglich in deinem Büro, du riechst nicht das, was wir riechen, du siehst nicht das, was wir sehen, und du hast keinen blassen Schimmer, wie hart wir für unser Geld arbeiten müssen. Manche von uns fragen sich, wie du überhaupt so plötzlich befördert werden konntest, also wieso stehst du da oben über uns wie ein Richter, komm doch runter und trau dich direkt mit uns zu reden.“
Mit diesen Worten rammt er in die vor sich stehende Menge und schiebt sich durch die Menschen hindurch, wie eine Kettensäge durch eine Hecke. Es folgen ihm ein paar weitere und denen wieder ein paar weitere, die sich mit voller Kraft in Felix und die anderen Männer werfen. Dann passieren mehrere Dinge so schnell hintereinander, dass Paul kaum auf die