wacht langsam auf, es fällt ihm schwer seine Augen zu öffnen, sein Mund ist trocken und klebrig, mehrmals blinzelt er, um seine Augen zum Aufwachen zu überreden. Immer noch halb in dem Traum, in dem er vor wenigen Minuten noch gesteckt hat, versunken, richtet er sich schwerfällig aus dem Bett auf. Es dauert, bis er begreift, was ihn geweckt hat. Das kleine schwarze Gerät, das neben seiner Matratze auf einem kleinen Hocker liegt, blinkt heftig, wechselt dabei völlig übermotiviert die Farbe und schrillt so laut, dass Philippes Ohren sich wie betäubt anfühlen. Immer noch schlaftrunken greift er nach dem kleinen ellipsenförmigen Gegenstand. 4:12 a.m. steht auf dem Display. Während er genervt das Gerät zum Ohr zieht, nimmt er den Anruf an, der sich zuvor so laut angekündigt hat. Da sein Mund immer noch der Trockenheit erlegen ist, bekommt er nur ein knappes „Mmh“ heraus. „Lafin! Herrgott! Wie lange muss ich eigentlich klingeln lassen, bis Sie sich mal bereit erklären den Anruf auch anzunehmen?“ Die Stimme des Captains schrillt wie eine feine Nadel durch den Hörer und bohrt sich schmerzhaft in seinen Gehörgang. Bevor Philippe, immer noch im Dämmerzustand, antworten kann, bohrt die Nadel sich bereits weiter durch sein schmerzendes Ohr. „Na ja, ist ja jetzt auch nebensächlich, ich weiß, dass Sie sich für heute eigentlich freigenommen hatten, letztendlich ist es aber so, dass ich Sie hier brauche, am besten umgehend. Hier bricht gerade ein Sturm los und ich brauche jemanden, der bereit ist sich diesem Sturm zu stellen. Es ist mir egal, wie Sie es machen, ob Sie hierher fliegen, schwimmen oder fahren, aber ich möchte Sie in einer Stunde in Uniform im Department sehen!“ Und bevor Philippe überhaupt begreift, was er da gerade gehört hat, ist nur noch ein Tuten in der Leitung. Er wirf das Telefon, das er ja bereits eh schon mehrere Zentimeter von seinem Ohr weggehalten hat, irgendwo auf den Hocker neben seiner Matratze. Erschöpft von der Lautstärke, der Uhrzeit und seinem immer noch trockenen Mund lässt er sich zurück in die Kissen fallen. Mit einer ruckartigen Bewegung zieht er sich die Decke über den Kopf. – Das war ein Traum Philippe, ganz sicher, das war nur ein ganz beschissener Albtraum, den du dir eingebildet hast, trotzdem will ich aber mal wissen … – Vorsichtig schiebt er einen Arm unter der dünnen Decke hervor und tastet erneut nach dem Telefon auf dem Hocker. Unter der Decke betrachtet er ein zweites Mal das Display. 4:17 a.m. Mit dem Daumen scrollt er zur Anrufliste. Letzter Anruf 4:12 a.m., Captain, steht da. Stöhnend pfeffert er das Telefon aus dem Bett und schält sich aus der wohlig warmen Decke, die ihn immer noch umgibt. Genervt richtet er sich von der Matratze auf, streckt sich, lässt seine Gelenke knacken und atmet mit nach oben gerichteten Armen tief ein. Sein Blick fliegt an die hohe Decke des alten Lofts, in dem er schon seit einer Ewigkeit wohnt. Er hatte es gekauft, als diese alten Fabrikhallen noch in den schlechten Teil der Stadt gehörten und sie als Schandfleck bezeichnet worden waren. Oft hatte Philippe sich gegen einen Abriss wehren müssen und wurde um unmenschliche Uhrzeiten von Räumungsdiensten aus dem Schlaf geklingelt. Doch Philippe konnte sich immer durchsetzen, das war eine Stärke, die er schon als Teenager besessen hatte. Während also neben ihm die alten Fabrikhallen weggerissen wurden und die Abrissbirnen und Bagger tage- und nächtelang Lärm verbreiteten, blieb er standhaft und schützte die letzte alte Fabrikhalle mit allem, was er bekommen konnte. Irgendwann, nach zahlreichen Petitionen und geplanten Demonstrationen, schaffte er es die alte Fabrik unter Denkmalschutz stellen zu lassen.
Philippe verließ das Fabrikgebäude nicht, auch nicht als die Polizei kam, um die Gegend zu evakuieren, weil sie beim Bau des neuen Parks gegenüber ein illegales Trisalpetersäureglyzerinester-Lager fanden. Philippe blockte auch damals ab und blieb auf eigene Gefahr. Mit der Zeit folgten dem neuen Park neue Häuserblöcke, die auf dem alten Fabrikgrund gebaut wurden, und die „letzte überlebende Fabrikhalle der Stadt“, wie es die Presse gerne nannte, wurde kernsaniert und zu neuen, hippen Loftwohnungen umgewandelt. Heute leben hier Modeblogger, Fernsehreporter, Zahnärzte und alle die, die es sich leisten konnten, in dem nun angesagtesten Viertel der Stadt eines der beliebten Lofts zu mieten oder sogar zu kaufen. Viele Male wurden Philippe schon horrende Summen geboten und auch seine Freunde rieten ihm immer wieder zum Verkauf seines über die Jahre um das 400-Fache im Preis gestiegenen Lofts. Philippe ist es aber egal, wie viel Geld er haben könnte, Geld ist ihm nicht wichtig, ist es ihm nie gewesen. Solange er Brot und Butter kaufen kann, reicht es ihm. Wenn er sich von der Matratze erhebt, um sich zu strecken und seine Muskeln zu dehnen, knarzen die alten Dielen, die das kleine Loft säumen, gerade so, als wollten sie ihn begrüßen. Das kann kein Geld der Welt ersetzen. Auch an diesem Morgen knarzen sie leise und beschwichtigend, als spürten sie die angespannte Stimmung, die sich auf ihnen breitgemacht hat. Nachdem er sich nicht mehr ganz so steif wie zuvor fühlt, tragen ihn seine Beine über die Dielen bis ins kleine Badezimmer. Hier ist der einzige Platz im Haus, an dem Philippe eine Tür hat, die er schließen kann. Meistens ist ihm aber nicht danach die schwere Eichentür hinter sich zuzuziehen, er fühlt sich in geschlossenen Räumen schnell eingesperrt, schnell gefangen, so, als würde da ein Gewicht auf seiner Brust sein, jedes Mal, wenn eine Tür hinter ihm geschlossen wird. Also lässt er auch an diesem Tag die Tür des Badezimmers offen. Er wäscht sich mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen und nimmt einen großen Schluck aus dem kühlen, nach Chlor riechenden Nass, um seinen immer noch trockenen Mund zu besänftigen. Als er den Kopf vom Wasserhahn hebt und sich mit dem grauen Handtuch durchs Gesicht wischt, sieht ihm im Spiegel, der über dem Waschbecken mit einer Lederschnur befestigt ist, ein Mann entgegen. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar ist von feinen grauen Härchen durchzogen, die sich an den Schläfen verdichten und immer mehr von dem einst braunen Haar verschlucken. Die Augen sehen trotz der leichten Falten, die sie umgeben, wachsam aus, so als gehörten sie einem Kind, das noch nicht genug gesehen hat und immer noch wissbegierig Neues aufsaugt wie ein durstiges Tier das Wasser. Die schmale Nase, die über den ebenfalls schmalen Lippen thront und hie und da eine mal neue, mal ältere Narbe zeigt, und der Mund, der trotz der Schmalheit sympathisch wirkt. Außerdem sind da noch die kantigen Wangenknochen, die Philippes Gesicht einrahmen und es manchmal fast so aussehen lassen, als würden sie es zusammenhalten wollen.
Er wendet sich von dem Spiegelbild ab, das ihm wie jeden Morgen entgegenblickt, und wandelt durch die offene Holztür, über die knarrenden Dielen zum Kleiderschrank, der von einem Vorhang verdeckt in einer der Ecken platziert ist. Sein Weg führt ihn an dem Hundekorb vorbei, der neben der Matratze auf einem kleinen Holzpodest liegt. Die dürre Windhunddame hebt verschlafen ihren Kopf. Mit schiefen Lefzen blinzelt sie ihm entgegen, so, als wundere sie sich, was ihr Herr so früh am Morgen auf den Beinen macht. Sanft streicht Philippe ihr über den zierlichen Kopf und flüstert ihr besänftigend etwas ins Ohr. Beruhigt durch seine Stimme schiebt sie ihren Kopf wieder unter ihre Vorderläufe und atmet einmal kräftig aus, erst jetzt kann sie sich wieder entspannen, jetzt, wo sie weiß, dass alles okay ist. Vorsichtig zieht Philippe die kleine Hundedecke über den dünnen Hund und tritt vom Hundekorb weg ans Fenster. Immer noch müde lässt er seine Augen über die noch schlafende Stadt streifen, die sich vor dem großen, hohen Fenster erstreckt. In der Ferne kriecht langsam das Licht des Morgens unter dem Smog der Straßen hervor. Bis hier oben auf die kleine Anhöhe, auf der Philippes und die vielen anderen Wohnungen thronen, reicht der Smog nicht, es wirkt fast so, als traue er sich nicht weiter nach oben, als wolle er im Schutz der Hochhäuser eingebettet bleiben.
Mit den Augen immer noch aus dem Fenster gerichtet dreht sich Philippe zu dem Vorhang um, der den kleinen Kleiderschrank verbirgt und so einen Raum ohne Tür schafft. Er schüttelt seinen Kopf, um seinen starren, müden Blick vom Fenster abwenden zu können, und greift nach der Uniform, die auf einem der Bügel an der alleinstehenden Kleiderstange hängt. Mit gewohnter Routine steift er sich die Hose über die Boxershorts und befestigt sie mit dem schwarzen, schweren Ledergürtel, der immer an der Hose hängt und seinen Platz nur für die Reinigung verlässt. Über die dunkelblaue, fast schwarze Hose zieht er das steife Hemd, mit den Schulterklappen, auf denen das Abzeichen mit dem einen goldenen Balken zu sehen ist, der seinen Rang markiert, darüber legt er die schwarze Krawatte. Seine Hände formen den Knoten trotz des wenigen Lichtes mühelos und legen anschließend den steifen Kragen darüber. Die schwarzen, langen Socken nimmt er aus einer kleinen Kommode, die unter einem modernen Bilderrahmen, der mit einem Nagel an der Backsteinmauer befestigt wurde und nicht mehr als einen schwarzen Fleck zeigt, steht. Die Socken stopft er sich in die tiefen Hosentaschen und läuft immer noch barfuß in die Küche, die gegenüber dem Schrank liegt und das andere Ende des Lofts markiert. Mit der einen Hand greift er zu der großen silbernen Kühlschranktür und mit der anderen zur Armbanduhr, die auf der Kücheninsel in einer Schale