Nathalie D. Plume

§4253


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zu dem Gegenstand, der sich hinter den dicken Wänden versteckt hält. Das schwere Metall der Pistole ist kalt. Geübt lädt er eine Patrone nach der anderen in das leere Magazin und befestigt Holster und Waffe an seinem Gürtel, vergewissert sich noch einmal nach dem richtigen Halt und lässt dann erst die Schnalle über den kühlen Griff schnalzen. Anschließend sieht er zum ersten Mal an diesem Morgen in die hellbauen Augen seines Freundes. „Dorian, wir müssen einen Sturm aufhalten, die Bevölkerung hat den ersten Absatz erfahren und wer weiß, was uns da draußen heute erwartet. Die Ordner müssen warten.“ Nachdem Philippe das ausgesprochen hat, klopft er auf den Deckel der dicken Ordner, ganz so, als würde er den Geheimnissen dahinter den Kampf ansagen, bevor er mit dem noch immer verwunderten Dorian das staubige Büro verlässt.

      8. Rügen, Deutschland

      Ein stechender Schmerz. Er blinzelt. Einmal. Zweimal. Eine leichte Drehung zur Seite. Wieder ein stechender Schmerz. Was war passiert? Da sind keine Geräusche, eine schreiende Stille oder ist da doch etwas? Da ist doch ein Klopfen? Oder ist es nur sein eigenes Herz, das er hört? Nein, da ist es wieder, viel zu unregelmäßig für einen Herzschlag. Vorsichtig versucht Paul seine Augen zu öffnen, doch irgend­etwas hält ihn davon ab. Oder hat er die Augen offen und ist es nur dunkel, so dunkel, dass er es nicht unterscheiden kann? Wo ist er überhaupt? Liegt er oder steht er? Wieso kann er da keinen Unterschied machen? Wieder ein Klopfen, nun unterstützt durch ein Beben. Bebt er? Oder ist es der Boden? Dann plötzlich und vollkommen unerwartet löst sich etwas von ihm, etwas sehr Schweres scheint sich von seinem Körper zu entfernen, es scheint fast so, als würde jemand einfach ein Teil von Paul wegnehmen und es mit sich nehmen. Es folgt eine Erleichterung, er fühlt sich leicht und endlich so, als würde er wieder Luft bekommen. Gierig saugt Paul die Luft um ihn in seine Lungen, doch anstelle des erhofften Sauerstoffs atmet er nur den heißen Rauch ein, der sich um ihn herum auszubreiten scheint. Dem Schmerz durch die Hitze, dem panischen Versuch den heißen Rauch wieder auszuhusten und dem darauffolgenden verzweifelten Ringen nach frischer Luft folgt die Erinnerung, die sich wie eine Explosion in seinem Kopf Platz zu machen versucht. Die Firma, ein Feuer, der § 4253, das Produktionsende, der Schlag auf seinen Hinterkopf und die darauffolgende Dunkelheit. Die Erkenntnis über seinen Aufenthaltsort lässt Paul panisch werden, verzweifelt versucht er Helligkeit zu erlangen, doch mehr als das rote Licht der Flammen dringt nicht durch Pauls geschlossene Lider. Wieso bekommt er seine Augen nicht auf? Hustend und nach Luft ringend rollt er auf dem heißen Boden hin und her und versucht panisch seine Beine auf den Boden zu stellen und sich zu erheben, doch sein Kopf will es nicht zulassen. Alles dreht sich, er kann einfach nicht herausfinden, wo oben und wo unten ist. Wenn er nur endlich Luft bekommen würde. Da, wieder dieses Klopfen, aber das ist kein Klopfen, da ist Paul sich mit jedem Mal sicher, es ist eine Stimme, eine tiefe schreiende Stimme. Sie muss zu einem Mann gehören. Da war doch jemand. Wieder ein Rufen, jemand ruft seinen Namen. Dann hebt er vom Boden ab, für einen Moment scheint es, als würde er fliegen, doch dann spürt er die zwei Hände unter seinen Axeln, die an ihm zerren. „Paul, Paul, Paul, Paul, bitte, bitte, komm doch zu dir, ich bekomme dich nicht hoch, Paul, bitte.“ Er kennt diese Stimme, langsam wie in Zeitlupe versucht er die Lippen voneinander zu lösen und etwas zu sagen. „Peeelix?“ ist das Einzige, was er herausbekommt, bevor er wieder hustend zu Boden fällt. „Ja Paul, ich bin es. Oh bitte, bitte, wir müssen hier weg, die Stahlträger können das Gebäude nicht länger aufrecht halten, noch ein paar Sekunden und wir sind zerquetscht, bevor wir verbrannt sind.“ Zerquetscht. Verbrannt. Hier weg. Die Worte schallen in Pauls Gehörgang. „Ugen, Ugen, nicht psehen.“ „Ugen? Oh Paul, ich versteh dich nicht.“ Unter all seiner Kraftanstrengung versucht Paul, seine Hände vor sein Gesicht zu halten, der Bewegung folgen jedoch nur weitere Schmerzen, die ihn zusammenzucken lassen. Felix, der die Andeutung, jetzt endlich verstanden hat, reagiert nur mit noch mehr Panik in seiner Stimme. „Ah, deine Augen, du kannst nichts sehen! Bitte Paul, das ist jetzt erst mal egal, ich führe dich, aber bitte erhebe dich doch.“ Wieder ein Zerren unter seinen Axeln. Noch einmal versucht Paul seine Kraft zu bündeln. Warum ist nur alles so anstrengend? Unter entsetzlichen Schmerzen hilft er seinem Freund ihn vom Boden zu stemmen. Es kostet ihn all seine Kraft den Boden zu verlassen, doch diesmal gelingt es den beiden Männern. Leicht auf seinen Freund gestützt, setzt Paul einen Schritt vor den anderen und sie setzen sich endlich in Bewegung.

      Es ist das Einzige, auf das er sich konzentrieren kann. Immer wieder wird das rot-gelbe Licht hinter Pauls Lidern intensiver, hier und da ist die Hitze, die an Haut und Haaren leckt, kaum aushaltbar, aber egal was, Paul setzt immer wieder einen Schritt vor den anderen. Manchmal krallen sich Felix’ Finger fester in seinen Arm und hier und da wimmert Felix neben ihm unverständliche Wortfetzen. Irgendwann scheint es Paul, als würden die Schritte leichter, als würde die Hitze um ihn herum einer angenehmen Wärme weichen, und der Wärme folgt, wieder ein wenig später, eine Kühle. Ja, es wird fast schon kalt um ihn, auch das rote Licht hinter seinen Lidern weicht schlagartig der Dunkelheit. Felix Fingernägel lösen sich aus seinem Arm und Pauls Stütze klappt abrupt darauffolgend nach unten. Durch den plötzlichen Stützverlust bricht auch Paul zusammen, seine Knie schlagen auf dem Boden auf, sein Oberkörper kippt nach vorne und zum zweiten Mal an diesem Tag verliert er das Bewusstsein.

      Es ist schwer gewesen. Felix kann im Nachhinein auch gar nicht sagen, wie die Situation in der Werkshalle so plötzlich außer Kontrolle geraten konnte. In einem Moment hatte Paul mit seiner Rede alles im Griff und im anderen Moment brannte ein großer Teil der Werkshalle lichterloh in Flammen. Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass, nachdem die Arbeiter die Treppe gestürmt haben und in die oberen Stockwerke eingedrungen sind, nichts mehr so ist, wie er es kennt. Er ist auch mehr als nur entsetzt über das Bauverbot und den damit zusammenhängenden Produktionsstopp, er ist auch sauer und hätte am liebsten die ganze Welt dafür verantwortlich gemacht, er hätte genauso gerne irgendetwas Greifbares kleingehackt, aber dass es so weit kommen würde, nein, damit hat niemand rechnen können. Die Meute, die die Treppe stürmt, sind alles Menschen, mit denen Felix jahrelang zusammengearbeitet hat, und von einem Moment auf den anderen verwüsten sie die Einrichtung, prügeln, stehlen und zündeln. Ist es das, was Unwissenheit und Ungerechtigkeit mit Menschen macht? Felix weiß es nicht. Nachdem er aber nach dem groben Sturz auf die Treppe zu sich kommt, sieht er genau das überall um sich herum.

      Er reibt sich seinen schmerzenden Ellbogen, Kopf und Rücken, streckt die Gelenke und versucht die Verspannung aus seinem Nacken zu lösen, die sich durch das Nach-hinten-Fallen und den harten Aufprall festgesetzt haben. Dann steht er auf und beäugt die komplett leere Werkshalle. Keiner ist da. Das hat Felix noch nie gesehen, normalerweise laufen die Maschinen und Roboter Tag und Nacht und selbst während des Schichtwechsels alle neun Stunden bleiben die Maschinen nicht stehen. Doch jetzt läuft keine einzige Maschine und kein Einziger seiner Kollegen bevölkert die Halle. Hinter ihm zerspringt eine Glasscheibe, dem Klirren folgen ein freudiges Lachen und der dumpfe Schlag eines größeren Gegenstands. Als hätte dieses Geräusch seine Sinne geschärft, hört er jetzt auch die Rufe der anderen, die aus den oberen Büroräumen kommen. Hastig und mit großen Sprüngen eilt er mit seinen langen Beinen die Stufen nach oben und betritt das Stockwerk, in dem auch Paul zuvor verschwunden ist. Vor seinen Augen tobt das reinste Chaos, angsterfüllt über die Situation bleibt er in dem Gang stehen und erstarrt durch den Schock des Anblicks. Das große Kopiergerät liegt neben der Kaffeemaschine in einem Scherbenhaufen, der wohl von der Glasscheibe des Aufenthaltsraums kommt. Zwei Männer, die normalerweise zwei Stationen vor Felix arbeiten, treten auf den Kopierer ein, der als solcher kaum noch zu erkennen ist. Unter seinen Schuhen knirscht das Glas, das überall im Flur liegt. „Mending! Komm her und hilf uns die Faxgeräte zu holen“, ruft ihm einer der Männer zu. Felix, der sich erschrocken aus seiner Erstarrung löst, starrt angeekelt in Richtung der Männer, dreht sich auf dem Absatz um und rennt wortlos die zweite Treppe zu den Büros nach oben. Hier ist es fast noch schlimmer als im Gang zuvor, offenbar hat die Meute am Flur zuvor ihren Spaß verloren und begonnen die oberen Büroräume zu zerfetzen. Einige der Frauen, die sonst in der Lackiererei arbeiten, tragen den schweren, klobigen Schreibtisch aus Pauls Büro und versuchen ihn, unter tosendem Beifall, die Treppe hinunterzuschieben, die Felix gerade nach oben gekommen ist. Schnell weicht er dem schweren hölzernen Schreibtisch aus, der mit einem gewaltigen Poltern die Treppe heruntersegelt. In Felix beginnt Hass zu brodeln. Es ist purer Hass, der sich in