Nathalie D. Plume

§4253


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liegt. Sie überqueren den kleinen Platz vor dem Rathaus und biegen hinter dem Spielwarenladen Günter, in den die beiden als Kinder schon so manches Taschengeld getragen haben, in eine schmale Seitenstraße ein, die sie in das kleine Wohngebiet führt, das zwischen zwei großen Rapsfeldern eingebettet liegt und sich perfekt in die hügelige Landschaft einfügt. Die Straße unter Evelins Füßen bewegt sich beinah wie eine Rollbahn, vielleicht sind es aber auch einfach ihre Füße, die sie stumm über die mit Moos bedeckten Steine tragen. Immer wieder setzt sie einen Fuß vor den andern und Lila tut es ihr gleich. Wirklich gute Freunde können sich anschweigen, ohne dass es komisch wird, und so laufen sie das letzte Stück schweigend nebeneinander her, bis sie den sonnenblumengelben Briefkasten erreicht haben. Erschöpft fällt Lila ihrer Freundin in die Arme, um sich von der ebenfalls sehr erschöpft wirkenden Evelin zu verabschieden. Evelin betrachtet ihre Freundin noch ein letztes Mal, bevor sie sich abwendet und an der Hauswand von Lilas Nachbarn entlang, die nach all den Jahren immer noch in einem leichten Rosa glänzt, die letzten Meter nach Hause antritt. Wie in einer nicht enden wollenden Wendeltreppe verliert sie sich dabei in ihren Gedanken.

      Immer noch tief in ihren Gedanken versunken erreicht Evelin das große Haus am Ende der Straße, das ein bisschen abseits auf einem kleinen Hügel thront, sich aber in seinem Aussehen kaum von dem der anderen Häuser unterscheidet. Sie zieht die kleine Gartenpforte hinter sich zu und überquert den Kopfsteinweg hin zum Haus. Im Gehen fingert sie ihren Schlüssel aus der vorderen Tasche ihres Rucksacks und will gerade die Haustür aufschließen, als ihr Handy sie mit einem ohrenbetäubenden Schrillen aus ihren Gedanken reißt. Erschrocken und leicht versteift greift sie nach dem kleinen Gerät in ihrer Hosentasche und liest, was auf dem Display steht: „Papa“. Genervt stößt sie die nun offene Haustür auf und wirft das immer noch klingelnde Ding in die Schlüsselschale im Windfang. Sie kann nicht ahnen, welche Wichtigkeit in diesem Anruf steckt, welche Dringlichkeit sich hinter den vier Buchstaben verbirgt, also lässt sie es klingeln. Eine ganze Weile springt es noch in der Schale umher, bis es verstummt und schweigt. Im Laufen streift sie ihre Schuhe ab und durchquert den Windfang hin ins Wohnzimmer. „Hallo! Ist schon jemand zu Hause?“, ruft sie halblaut die Wendeltreppe nach oben, die direkt neben der Tür zum Windfang in die oberen Stockwerke führt. Keine Antwort. Ein zweites Mal: „Hallo! Ich bin jetzt zu Hause!“ Wieder keine Antwort. Ein Achselzucken, dann streift sie ihre enge Hose von den Beinen und tänzelt an die große Stereoanlage unter dem Flatscreen. Sie dreht den Regler fast bis ganz nach oben. Die dicken Boxen vibrieren unter ihren Füßen und lautstark grölt sie den Song mit, den der alte MP3-Player ihres Vaters ihr vorschlägt. Immer noch laut singend und ohne die nervige Hose schlendert sie in die Küche und entdeckt den gelben Zettel, der am Kühlschrank, unter einem Bild von ihrem Bruder, hängt. „Kommen erst gegen acht Uhr nach Hause, Essen ist im Kühlschrank, deine Wahl liegt zwischen der Pasta von gestern und Kartoffelpüree mit Erbsen und Fischstäbchen. Streite dich nicht mit deinem Vater, hab dich ganz dolle lieb, Mama.“ Ein Lächeln umspielt Evelins Lippen, sie öffnet den Kühlschrank und greift zu Dinosaurierfischstäbchen, Kartoffelpüree und Erbsen, die bereits auf einem Teller drapiert darauf warten in die Mikrowelle geschoben zu werden.

      Mit Teller und Limonade bewaffnet lässt sie sich schwerfällig auf das Sofa sinken und scrollt auf dem Display der Fernbedienung noch ein wenig lauter. „Streite dich nicht mit deinem Vater“, es schallt in ihrem Kopf wider. „Wie denn?“ schreit sie so laut, dass sie sogar die Musik übertönt. „Wie denn? Wenn er nicht einmal hier ist!“ Und zum zweiten Mal an diesem Tag rollen dicke Tränen über ihr Gesicht und bilden eine salzige Pfütze auf dem Kartoffelpüree, das der plötzlichen Feuchtigkeit nur mit Mühe gewachsen ist. „Wie denn?“, schluchzt sie wesentlich leiser, ein letztes Mal, in den leeren Raum hinein.

      „Evelin, Evelin, Evelin, bist du wach?“, etwas rüttelt an ihr. „Evelin, mein Liebling, du musst aufwachen.“ Erneut ein nun unsanfter werdendes Rütteln. „Oskar, hör auf so an deiner Schwester zu ziehen, sie wird ja noch seekrank.“ Ein verschmitztes Kichern, dann hört das Rütteln auf. Vorsichtig blinzelt Evelin sich den Schlaf aus den Augen und lugt auf den kleinen Wecker, der auf ihrem Nachttisch steht, er zeigt 00:18 Uhr. „Mama?“ Leicht schlaftrunken reibt sich Evelin die Augen und versucht sich an das grelle Licht um sie herum zu gewöhnen. „Was ist denn los?“ „Evelin mein Schatz, es tut mir so leid, es ist später geworden, dein Bruder ist bei Oma eingeschlafen und …, na ja ist ja auch egal, viel wichtiger ist, hast du was von deinem Vater gehört? Er ist immer noch nicht zu Hause und er geht nicht an sein Handy. Ich habe auch schon in der Firma angerufen, aber da geht immer gleich der Anrufbeantworter ran, ich mache mir langsam Sorgen.“ Mit einem Mal ist Evelin hellwach. Ihr Blut beginnt laut in ihren Ohren zu rauschen. Der Anruf von ihrem Vater, den hatte sie total vergessen. Wie von der Tarantel gestochen springt sie aus dem Bett, rennt aus ihrem Zimmer die Wendeltreppe hinunter durch die Tür in den Windfang. Auf dem Weg nach oben drückt sie immer wieder auf die Rückruftaste, doch jedes Mal überspringt das Gerät das Freizeichen und die unangenehme Computerstimme verkündet, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar sei.

      Als sie schnell atmend wieder in ihrem Zimmer ankommt, sitzt ihre Mutter immer noch mit besorgter Miene auf der Kante ihres Bettes. „Und, konntest du ihn erreichen?“ Resigniert schüttelt Evelin den Kopf und lässt ihr Handy sinken. „Nein, nichts, immer nur der Anrufbeantworter, aber das hat bestimmt nichts zu heißen, vielleicht ist er nur mit ein paar Kollegen etwas essen gegangen und er hat sein Handy irgendwo liegen lassen, du kennst doch Papa.“ Ihre Mutter wirkt wenig beruhigt. „Nein, dein Vater würde so etwas nie machen, ohne vorher Bescheid zu geben, außerdem habe ich bei Lilas Vater angerufen, da ist auch niemand zu Hause.“ Evelin legt ihrer Mutter eine Hand auf die Schulter und versucht möglichst überzeugend und beruhigend zu wirken, obwohl in ihrem Kopf der reinste Notstand ausgerufen wird und ein Unglücksszenario nach dem anderen auf ihre Netzhaut projiziert wird. Ihr kleiner Bruder, der von der ernsten Lage nichts mitzubekommen scheint, rennt an den beiden vorbei in sein Zimmer. Die kleinen Füße trampeln durch den Flur und als er wieder in Evelins Zimmer erscheint, hält der Fünfjährige seiner Schwester ein Blatt nach oben und blickt dabei in eine komplett andere Richtung, fast als hätte er vergessen, warum er hier ist. Evelin lässt die Schulter ihrer Mutter los und nimmt ihm das Blatt aus den winzigen Händen. Der kleine Junge nickt zufrieden und rast zurück in sein Zimmer. Langsam zieht Evelin das Bild zu ihren Augen. Es zeigt wild übereinander gelegte Striche und Kreise, die für einen Fünfjährigen erstaunlich präzise wirken. Lächelnd sieht sie ihre Mutter an. „Danke Oskar, es ist wunderschön, ich hänge es über mein Bett, ja?“ Keine Antwort aus Oskars Zimmer. Evelin, die auch keine Antwort erwartet hat, steigt auf ihr Bett und pinnt das Bild zu den anderen wirren Gemälden ihres Bruders. Dann wandert ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihrer Mutter. „Es wird schon nichts passiert sein.“ Aufmunternd und immer noch sehr besorgt zieht die Frau auf der Bettkante die Stirn in Falten. „Dein Wort in Gottes Ohr Evelin, ich hoffe du hast recht.“

      Da nach der Aufregung und der stetig anhaltenden Sorge um Ehemann und Vater nicht mehr an Schlafen zu denken ist, setzt Evelin sich neben ihre Mutter und legt ihren Kopf auf ihren Schoss. Ihre Augen wendet sie dabei zu den vielen Malereien an der Decke. „Glaubst du, dass er irgendwann sprechen wird?“ Das sanfte Gesicht ihrer Mutter schaut nun zu ihr runter. „Glaubst du, dass er es nicht tun wird?“ Sie küsst Evelin auf die Stirn. „Ich glaube einfach“, spricht sie weiter, „dass er auf die richtigen Worte wartet und dass er einfach noch nichts Wichtiges zu sagen hatte.“ Mit diesem Satz schließen beide die Augen und lauschen dem in der Ferne rauschenden Meer. Es folgen ein Poltern und ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wird.

      7. High York, USA

      Es war ein Scheißtag! Philippe konnte sich auch gar nicht erklären, wie ein eigentlich so schöner Tag so rasant schnell so aus dem Ruder laufen konnte. Vielleicht lag es an dem Anruf, den er so früh morgens erhalten hatte, obwohl er doch seinen freien Tag hatte. Vielleicht lag es an den Worten, die sein Chef ins Telefon gebrüllt hatte, ohne einmal Luft zu holen, oder es lag an dem Kaffee, der trotz des sechsten Stücks Zucker immer noch schmeckte, als wäre er zum dritten Mal in der Mikrowelle erhitzt worden. Vielleicht lag es auch an den ganzen anderen Dingen, die an diesem Tag folgten, dass Philippe sich abends auf die kleine Stufe vor dem Department setzte, in den wolkenlosen