Tilman Janus

Weihnachten unter Männern


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Fleisch wird nicht so fett und schwammig. Ich bin für den kleinsten Kälberstall zuständig, wenn ich nicht zur Berufsschule muss.

      An dem Morgen war ich fast fertig mit dem Rauslassen der Kälber, als ich plötzlich eine Bewegung auf dem Heuboden sah. Erschrocken starrte ich nach oben.

      »He, hallo! Wer ist denn da?«, rief ich.

      Ein verwuschelter Lockenkopf tauchte aus dem Heu auf.

      »Hallo!«, sagte ein Fremder und guckte verlegen von oben herunter.

      »Was suchst du hier?«, fragte ich und versuchte streng zu sein. Die Rinder sind viel wert, und mein Vater achtet immer darauf, dass sich niemand Fremdes in den Ställen einnistet. Man weiß ja nie.

      »Es war so kalt draußen heute Nacht«, sagte der Unbekannte. Langsam tauchte er ganz aus dem Heu auf und kletterte die Holzleiter zu mir herunter. Er war noch ganz jung, ungefähr so alt wie ich, aber etwas größer. Seine Jeans waren zerrissen, und das fleckige, rote Sweatshirt, das er trug, hatte auch schon bessere Tage gesehen. Trotzdem wirkte er nicht wie ein Penner, sondern eher so, als ob er noch vor ein paar Wochen ein richtiges Zuhause gehabt hatte. Er war sehr schlank, und eigentlich sah er ziemlich hübsch aus. Er hatte braune Augen mit ganz langen Wimpern und lockige, braune Haare, in denen jetzt lauter Heuhalme steckten.

      »Mein Vater will nicht, dass hier im Stall Leute übernachten«, sagte ich.

      »Entschuldige. Ich hab nichts anderes gefunden.« Er klopfte den Staub aus seinen Sachen.

      »Hast du keine Familie?«, fragte ich neugierig. Er gefiel mir irgendwie, und ich beschloss, den anderen nichts zu sagen.

      Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab nur einen Vormund, und der wollte mich in ein Erziehungsheim stecken. Deshalb bin ich weg.«

      »Und hast du denn gar nichts bei dir zum Anziehen?« Ich wunderte mich wirklich ein bisschen, im Winter ohne Jacke und so.

      »Ich hab ein kleines Bündel, liegt noch oben im Heu.« Er streckte und reckte sich und fuhr mit den Händen über sein Gesicht, als ob er sich trocken waschen wollte. »Ihr habt doch Kühe. Ob ich bitte ein bisschen Milch haben könnte?«

      »Die geben keine Milch, wenn sie keine kleinen Kälber haben. Ich hol dir was zum Frühstück.«

      »Dankeschön! Aber …«, er sah mich mit großen Augen an, »sag bitte deinen Eltern nichts. Wenn die Polizei mich findet, muss ich ins Heim.«

      »Schon okay!«

      Ich ließ die letzten Kälber in den Laufstall und setzte mich dann Richtung Haus in Trab. Mutter war gerade in der Waschküche und sah mich nicht. Schnell packte ich Brot, ein Stück Leberwurst, etwas Käse, eine Flasche Apfelsaft und ein Stück Kuchen zusammen und lief wieder zum Stall.

      »Wie heißt du?«, fragte ich ihn, als ich ihm sein Frühstück gab.

      »Tom!«, sagte er und stürzte sich hungrig auf das Essen. »Danke! Ist wirklich nett von dir!«

      Ich kicherte.

      »Lustig! Ich heiße Tim! Meine Mutter schwärmte für „Tim und Struppi“ damals.«

      Tom lächelte mich an. Er war wirklich sehr hübsch. Herzhaft biss er in das Brot und die Wurst. Er hatte schöne, kräftige Zähne. Seine Lippen schlossen sich weich um das Wurstende.

      »So ein tolles Frühstück hatte ich schon lange nicht mehr.« Er wischte sich die Finger an seinem Sweatshirt ab. »Vielleicht kann ich dir was helfen, als Gegenleistung?«

      »Ja, wenn du Lust hast … Ich muss die Stände ausmisten und dann neues Stroh aufschütten und die Futterkrippen füllen für den Abend.«

      Tom half mir, und er stellte sich ganz gut an. Obwohl er so schlank wirkte, hatte er Kraft in den Armen und schwenkte die Mistgabel wie ein gelernter Landwirt. Dadurch war alles viel schneller fertig, als wenn ich es alleine hätte machen müssen.

      »Hast du schon mal auf dem Land gearbeitet?«, fragte ich ihn, als wir uns zusammen auf einen Heuballen setzten und ausruhten.

      »Ja, wenn ich mir ein bisschen was verdienen wollte. Es macht mir auch Spaß, auf einem Bauernhof zu arbeiten. Ich mag die Tiere.«

      »Gehst du nicht zur Schule?«

      »Im Augenblick nicht«, meinte Tom verlegen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann ja nicht ewig so herumziehen. Und jetzt wird’s bald richtig Winter.«

      »Wir könnten vielleicht noch eine Hilfe brauchen«, überlegte ich laut.

      Er zuckte mit den Schultern.

      »Wenn ich länger irgendwo bin, kommt bestimmt irgendwann die Polizei drauf«, murmelte er mutlos.

      Ich wusste auch keinen Rat. Wir saßen stumm nebeneinander auf dem Heuballen im leeren Stall. Es gefiel mir, so dicht neben ihm zu sitzen. Ganz unauffällig rückte ich noch ein kleines Stück näher an ihn heran. Er wandte mir plötzlich das Gesicht zu und lächelte. Ich fand sein Lächeln aufregend. Überhaupt fand ich ihn aufregend. Ich hätte mich so gerne an ihn gekuschelt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich noch bei Vater im größten Stall mithelfen musste, wo die Mutterkühe standen.

      Plötzlich stand mein Vater im Eingang, stemmte die Hände in die Hüften und guckte mich vorwurfsvoll an. Vater ist ein richtiger Hüne, wirklich zum Fürchten, wenn man ihn nicht kennt. Ich zuckte zusammen, und Tom neben mir erstarrte vor Schreck.

      »Wo bleibst du denn, Tim?«, donnerte Vater los. »Du sitzt hier faul herum? Und wer ist das da?« Er deutete auf Tom, der mit seinen abgerissenen Sachen bestimmt nicht sehr vorteilhaft wirkte.

      »Tom … ein … ein Freund!«, stotterte ich.

      »Seit wann hast du einen Freund? Und wie sieht der aus? Du weißt, dass ich es nicht dulde, dass Obdachlose in den Ställen Unterschlupf suchen. Also raus mit dir, Junge!« Er kam langsam auf Tom zu, bedrohlich wie ein Riese. Tom kroch in sich zusammen.

      »Bitte, lass ihn doch bei uns arbeiten!«, bat ich. »Wir brauchen doch noch jemanden hier. Und Tom hat mir eben schon geholfen. Er kann das gut!«

      »Schluss und aus!«, schnauzte Vater. »Penner können wir hier nicht gebrauchen! Und du komm jetzt endlich, Tim!«

      Ich musste mit. Ich warf Tom noch einen Blick zu, als er aufstand und langsam zum Stalltor ging. Plötzlich war mir, als ob mein bester Freund weggehen sollte. Ich kannte ihn erst so kurz … trotzdem! Mir wurde ganz komisch im Bauch, als Tom nach draußen verschwand. Es war, als ob da ein Loch gerissen worden war. Ich musste mich wohl in ihn verliebt haben, ohne dass ich es gemerkt hatte.

      So lange ich denken konnte, hatte ich mir einen Freund gewünscht, einen Jungen ganz für mich alleine. Fast jede Nacht träumte ich, dass mich dieser Freund nackt in den Armen hielt. Ich spürte seine warme Haut und seine zärtlichen Hände. Seine harte Männlichkeit drückte sich an meine, und jedes Mal ging dann eine feuchte Ladung in meine Pyjamahose. Wenn ich aufwachte, hatte ich immer noch mehr Sehnsucht als vorher.

      In dem Moment, als Tom verschwunden war, wusste ich, dass er so war, wie ich mir einen Freund wünschte. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass er vielleicht keine Jungs mögen könnte. Ich spürte einfach, dass er so war wie ich, ich wusste nicht, warum. Ich hätte am liebsten geheult. Traurig schlich ich hinter Vater her.

      Wir liefen über den Hof zum Mutterkuhstall. Tom war verschwunden.

      Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Ich sah Tobias, meinen ältesten Bruder, mit bleichem Gesicht im Hof stehen. Mutter, mit einem Wäschekorb vor dem Bauch, starrte entsetzt in meine Richtung. Vater, der ein Stück voraus war, drehte sich um und schlug die Hand vor den Mund. Und dann bekam ich es endlich mit – Kasimir, unser riesiger Bulle, stürmte hinter mir ganz allein über den Hof!

      Er musste sich aus Tobias’ Hand losgerissen haben, denn die dünne, eiserne Führstange hing noch an seinem Nasenring. Gerade da ratterte ein LKW mit leeren Milchkannen über die Landstraße vor unserem Tor und verursachte einen ohrenbetäubenden Krach. Kasimir warf sich in Panik herum und