zur Vergesslichkeit, was ihn selbst maßlos ärgert. Fremden gegenüber kaschiert er seine beginnende Demenz jedoch fast perfekt. Trotzdem, mit seinen fast achtzig Jahren, muss er sich wohl damit abfinden. Seinen Hut in die Stirn gedrückt, den eleganten Spazierstock mit dem Silbergriff in der linken Hand, verlässt er sein Haus.
Die Trinkerkommune wechselt den Standort: Auf geht’s zur Sonja. Es ist jetzt fünfzehn Uhr, die Sonne scheint und es ist immer noch warm. Gott sei Dank, denke ich mir. Wie das im Winter werden wird, in den kalten Tagen mit Eis und Schnee, kann und will ich mir noch gar nicht vorstellen. Ich muss mich wohl allmählich um warme Kleidung kümmern, mit meinen löcherigen Jeans werde ich kaum unbeschadet durch die kalte Zeit kommen. Noch ist es aber nicht soweit, überlege ich, und zugleich wird mir bewusst, dass das Hinausschieben von Aufgaben eine meiner Spezialgewohnheiten ist. Ich weiß nicht, ob alle Säufer diese Angewohnheit haben; ich gehöre jedenfalls zu denen, die glauben, ein guter Geist wird mir schon behilflich sein. Du bist auf dich allein gestellt, begreife doch endlich, du elender Trinker.
Der lästige Gedanke verschwindet schneller als er gekommen war. Es ist wieder nur so eine Art Momentaufnahme, die ich in der selben Sekunde wieder verdränge.
So torkeln und wanken wir also durch den Nachmittag, das stundenlange Trinken hinterlässt eben seine Spuren. Der Junge mit dem Blackout ist nicht mehr dabei, der hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt und noch ein bisschen mehr. Ich fühle mich noch gut, muss auch sein, bei lediglich fünf Bieren. Das stete Training macht sich eben bezahlt. Bei diesem Gedanken muss ich schmunzeln, obwohl es eigentlich um die Selbstzerstörung des „eigenen Ich“ geht. Ich bin froh, dass ich nur Bier trinke, denn wenn die Wirkung nachlassen sollte und ein Umstieg auf stärkere Sachen erfolgt, dann wird es angeblich schwer mit dem Zurückrudern. Wir trudeln beim Kiosk von Sonja ein und die erste Order wird erteilt. Ob sich die hübsche Wirtin freut, weiß ich nicht. Wahrscheinlich sieht sie nur den Umsatz und nimmt solche Trunkenbolde, wie wir es sind, kaum noch wahr, schon gar nicht ernst.
Mir ist heute ganz nach Flirten zumute und ich beginne Sonja anzubaggern: „Hübsch siehst du heute wieder aus, richtig verführerisch.“
Sie wirft sich in Positur, streckt ihren Busen noch weiter heraus und schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Danke, Edamer!“, haucht sie.
Mal sehen, ob ich bei ihr punkten kann. Mein männlicher Instinkt, sofern noch abrufbar, sagt mir aber: Halte dich vorerst besser etwas zurück, wenn du zum Zug kommen möchtest. Soviel ich weiß, hat sie im Moment keinen Lover. Ich überlege, wann ich zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen habe: das ist schon einige Zeit her, wird mir deutlich klar. Durch das permanente Trinken hat meine Potenz womöglich schon Defizite aufzuweisen – das wäre peinlich. Aber einmal abwarten, wie sich das „Unternehmen Beischlaf“ heute noch entwickeln wird.
Der Blade erzählt schon wieder einen seiner abgenützten Witze. Keiner lacht, nur Sonja schmunzelt, obwohl auch sie die Pointe bereits zur Genüge kennt. Dann wird politisiert, der Kanzler führt das Wort. Er erzählt uns, wie sich ein harter Brexit auf das restliche Europa auswirkt, wie sich die EU verkleinern wird müssen, da einige Länder abspringen werden. Ob Österreich dabei sein wird, hängt von vielen Faktoren ab, die er, der Experte, zwischen dem fünften und sechsten Bier noch nicht abschätzen kann. Homo, ein Fan der Eishockeyhelden der Black Wings, ist traurig, dass seine Burschen im Moment nur im Mittelfeld dahindümpeln und vielleicht das Playoff verpassen.
„Schlaft ihr alle auf der Straße?“, frage ich aus heiterem Himmel. Im ersten Moment Stille, dann schaltet sich der Blade ein: „Ja, tun wir. Willst du zu uns ziehen?“ Die anderen lachen.
„Könnte passieren“, sage ich und denke an meinen Mietrückstand, der sicher beträchtlich sein wird. Was mache ich wirklich, wenn mich der gute Freund meines Vaters auf die Straße stellt? Abwarten! Bisher habe ich noch immer eine Lösung gefunden. Die Frage, ob es immer die richtigen Entscheidungen waren, lasse ich lieber dahingestellt.
Kapitel 3
Ich wache auf, langsam nehme ich mein Umfeld wahr und stelle fest, ich liege in einem fremden Bett. Herrlich weich und kuschelig warm. Die Wattierung in meinem Kopf ist heute weniger stark, irgendwie fühle ich mich gut. Bis mein Gehirn auf „Senden“ geschaltet hat, vergeht eine geraume Zeit, dann treten schön langsam die Erinnerungen ans Licht.
Sonja! Genau! Dieses wunderbare Weib hat mich abgeschleppt. Jetzt sehe ich alles wieder deutlich vor mir. Sie hat den Kiosk früher geschlossen als sonst, hat meine Kumpane verjagt und ist mit mir zu sich nach Hause gefahren. Und ich glaube, ich war ganz gut, ich habe sie nämlich zwei Mal jodeln gehört. Wenn es nicht gespielt war. Aber Sonja dürfte eher nicht der Typ Frau sein, der einem Mann so etwas vorspielt. Also muss ich wirklich gut gewesen sein. Im Geiste klopfe ich mir auf die Schulter. Ich richte mich auf, schaue mich um, aber der Platz neben mir ist leer. Wie spät ist es?, überlege ich und steige aus dem Bett. Von Sonja ist weit und breit nichts zu sehen. Nackt streune ich durch ihre Wohnung – keine Sonja.
Auf dem Küchentisch finde ich schließlich einen Zettel mit einer Nachricht: „Hallo, Edamer, war schön mit dir. Nach Anlaufschwierigkeiten bist du zur Hochform aufgelaufen. Vergiss nicht zu duschen. Sonja.“
Also, hier ist die Bestätigung: ich war in Hochform. Aber den Nachsatz mit dem Duschen hätte sie sich ruhig sparen können. Ich rieche an mir, leichter Schweißgeruch, daraus macht man doch kein solches Gezeter. Vergnügt begebe ich mich in die Dusche unter den warmen Wasserstrahl und bleibe eine halbe Ewigkeit. Ich genieße es, verbrauche Unmengen von heißem Wasser. Wer weiß, wann sich wieder eine solche Gelegenheit bietet. Vielleicht gibt es ja ein da capo – an mir soll es nicht liegen.
In besonders guter Laune verlasse ich das Liebesnest und stelle mich der rauen Wirklichkeit.
Ich kehre zurück zu meinem Einzimmer-Appartement, um den Lottoschein genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Geldbörse vom Hofrat stecke ich ein. Beim Verlassen meiner Wohnung finde ich wieder eine Nachricht im Briefkasten. Sofort ordne ich den Absender richtig zu und mit einem flauen Gefühl im Magen öffne ich den Brief.
„Lieber Alfred, die Teilzahlung habe ich erhalten, danke. Ich bin mir nicht sicher, ob du überhaupt deinen genauen Mietrückstand kennst. Ich glaube nämlich nicht, ansonsten würdest du mich nicht mit einem Trinkgeld abspeisen. Wir reden hier von 1846 Euro, die nach Abzug deiner großzügigen 200 Euro noch offen sind. Da ich Realist bin, weiß ich, dass ich dieses Geld nie mehr sehen werde. Was ich auch nie mehr sehen werde (und auch nicht will), bist du, Alfred. Das Gelände habe ich inzwischen verkauft, daher hast du eine Woche, um deine Habseligkeiten zusammenzupacken. Bleibt nur noch zu wünschen, dass du vielleicht doch noch die Kurve kratzt und wieder an der Oberfläche der kultivierten Menschheit auftauchst. Ich wünsche dir trotz allem das Beste. Der gute Freund deines Vaters.“
Das ist Klartext, und zwar kristallklar. Ich muss mich setzen, um diese Ansage zu verdauen. Er hat recht, es gibt nichts zu beschönigen, es ist die Wirklichkeit in der ich, Alfred Hauser, lebe. Blöd nur, dass ich jetzt kein Dach mehr über dem Kopf habe. Gerade jetzt, wo der Winter bevorsteht. Ein leichtes Frösteln überkommt mich. Ich sollte jetzt tatsächlich ernsthaft nachdenken. Am besten die klügste Vorgangsweise bei einem Bier mit meinen „Kollegen“ erörtern.
Ein Kassasturz beschert mir restliche neun Euro und dreiundvierzig Cent; das ist gewiss eine finanzielle Delle, aber noch kein Shut-down. Morgen gibt es ja wieder Geld vom Vater Staat. Hoch lebe unser Sozialsystem.
Draußen ist es bewölkt. Ich nehme die Trainingsjacke in Grün, die ich zur bestandenen Matura gekauft habe. In Sachen Mode bin ich nicht unbedingt wählerisch, vor allem habe ich kein ausgeprägtes Markendenken. Ganz anders ist das beim Bier.
Heute trifft sich die honorige Gesellschaft im Hessenpark, ein umstrittener Hotspot in der Landeshauptstadt. Die Gesellschaft ist wieder vollzählig. Auch Eimer ist wieder dabei, der die letzten zwei Tage abwesend war. Homo war neugierig und wollte den Grund seiner Absenz wissen.
„Ich war im Dienste der Wissenschaft unterwegs“, erklärt er uns mit einem überlegenen Lächeln.
„Du und die Wissenschaft.