da war das Gelb der Lärchen, der Zitterpappeln und der Birken, das Braun der Buchen und Eichen, die unterschiedlichen Grüntöne der Nadelbäume und vor allem das unvergleichliche Orange und Rot der kanadischen Eichen.
Haralds Hand krallte sich zunehmend in die von Chantal. Sie hatte sich ausschließlich auf dieses Farbenspektakel konzentriert und gejauchzt wie ein kleines Kind.
»Haaach. Ist das nicht herrlich Harald. So schön habe ich es mir nicht vorgestellt.«
Doch plötzlich hatte sie ein eigenartiges Gefühl. Harald antwortete nicht. Deshalb blickte sie kurz zu ihm hinüber. Sie sah, dass er gedankenverloren nach unten starrte. Dicke Tränen rannen über seine Wangen.
»Harald. Harald«, bettelte sie.
»Geht es dir nicht gut?«
Doch Harald schien sie nicht zu hören.
Er starrte weiter nach unten. Er weinte und lächelte gleichzeitig.
Chantal schüttelte aufgeregt seinen Arm.
»Ist das nicht ein Traum«, sagte er mit verweinter Stimme. »Das ist das Paradies. Ich möchte es mitnehmen. Aaach ist das schön.«
Die Art, wie er es sagte, ließ Chantal aufhorchen. Nein. Nein. Das waren keine Worte der Freude. Hier schwangen andere Töne mit; Töne der Ehrfurcht, des überwältigenden Erstaunens aber auch Laute der Hoffnungslosigkeit und einer unendlichen Traurigkeit. Nein. Nein. Das war nicht ihr Harald, den sie sonst kannte. Hier musste sie sich Sorgen machen; große Sorgen!
Jetzt begann auch Chantal zu weinen. Ihr Instinkt schrie förmlich: »Harald hat dir etwas verschwiegen! Es muss etwas Schlimmes sein. Mit dem Geschäft hat es mit Sicherheit nichts zu tun. Das darfst du nicht auf die leichte Schulter nehmen!«
Sanft streichelte sie die Hand ihres Geliebten. Doch er schwieg. Hastig hatte er sich die Tränen von den Wangen gewischt. Aber er blickte sie nicht an.
Endlich hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Harald versuchte, krampfhaft zu lächeln. Es war ein angestrengtes Lächeln.
Auf einer Anhöhe mit einem weiten Blick über das bunte Meer aus Bäumen parkte Chantal das große Geländefahrzeug. Harald war in sich zusammengesunken.
Mit müden Schritten, und mit Chantals Hilfe, schleppte er sich zu einer kleinen Bank.
»Gott. Oh Gott. Ist das schön«, seufzte er und lächelte.
Chantal nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände. Sie blickte in glänzende und leicht verweinte Augen. Doch jetzt sah sie es. Warum sah sie das erst heute?! Das Weiß der Augäpfel hatte sich in ein Gelb, ja fast in ein helles Braun verwandelt. Was war das?
Sie klammerte sich an diesen Mann, den sie seit fünfzehn Jahren kannte; mit ihm das Bett teilte; den sie inzwischen liebte. Ja. Heute, hier und jetzt, wusste sie, dass sie ihn liebte; wie keinen Mann auf dieser verdammten Erde. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, ein solches Gefühl für einen Menschen entwickeln zu können. Doch jetzt hatte sie Angst!
»Mein Schatz. Liebling. Bitte! Sag‘ mir, was mit dir nicht stimmt. Bist du krank?«, krächzte sie heißer.
»Oh mein Gott. Schau dir das an«, sagte Harald fast euphorisch. »Was haben wir zusammen gesehen und erlebt; in Kanada, in der Toskana, in Skandinavien, in Tschechien, im Balkan und was weiß ich noch wo. Es war ein herrliches und wunderwunderschönes Leben mit dir. Ich möchte keinen einzigen Tag missen« Er lachte kurz auf. »Vor allem an diesen verrückten ersten Abend in Würzburg muss ich oft denken. Du bist eine wunderschöne Frau. Du bist eine warme Frau. Das habe ich dir am ersten Abend unseres Kennenlernens gesagt. Glaub‘ mir. Ich bin dir nicht böse, dass du …«
Er stockte kurz.
»Wichtig für mich war und ist, dass du auch mich glücklich gemacht hast; unendlich glücklich. Nicht auszudenken, wie das Leben ohne dich verlaufen wäre. Dafür liebe ich dich. Unendlich. Dafür danke ich dir.«
Chantal riss sich los. Sie trommelte wie wild auf Haralds Brustkorb. Sie schluchzte und schrie:
»Ja. Ja. Ja. Aber das beantwortet nicht meine Frage. Sag‘ mir endlich was los ist!«
»Komm‘«, sagte Harald lächelnd und zog Chantal wieder an seine Brust.
Nachdem er einige Male tief geatmet hatte, sagte er:
»Ich weiß es noch nicht so lange. Diese Krankheit ist extrem tückisch.«
»Was heißt tückisch?«, schluchzte Chantal.
»Du hast es nicht verdient, dass ich dich anlüge. Mit tückisch meine ich tödlich. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich habe inzwischen alles checken lassen. Ich habe ein CT und ein MRT machen lassen. Das Pankreaskarzinom ist extrem groß. Metastasen haben sich in der Lunge, der Leber und inzwischen auch in den Knochen gebildet. Die Ärzte raten von einer OP ab. Vor zwei Wochen habe ich mit der Chemotherapie begonnen.« Er machte eine Pause, um mit einem Seufzer fortzufahren:
»Diesen Urlaub wollte ich noch mit dir verbringen. Diese herrlichen Bilder will ich mit hinübernehmen; zusammen mit deinen Augen und deinem Lächeln. Mach‘ es mir bitte nicht schwerer als es ist. Bitte!«
Noch während des Kurzurlaubes sagte Chantal alle Termine ab. Alle. Ausnahmslos.
Gemeinsam versuchten sie, diesen Schicksalsschlag zu verdrängen; Haralds letzten Urlaub so unbeschwert wie nur irgend möglich zu gestalten. Sie machten Ausflüge, fuhren mit einem Boot hinaus auf den See, in dem sich die bunten Farben widerspiegelten. An den Abenden saßen sie vor dem Kamin und leerten sogar einige Flaschen Wein.
Sie lagen lange im Bett und streichelten sich gegenseitig. In der Nacht vor dem Rückflug flüsterte Harald:
»Lass‘ es uns versuchen. Ich möchte noch einmal deinen herrlichen Körper spüren.«
Es wurde eine zarte und wunderbare Stunde.
Chantal lag später noch sehr lange wach. Das Laken sog ihre Tränen gierig auf.
Über alle weiteren Schritte wollte sich Harald mit ihr zuhause unterhalten. Chantal nahm sich vor, immer an seiner Seite zu stehen – bis zum Schluss; koste es was es wolle. Fest stand bereits jetzt schon, dass sie Harald in die Firma begleiten musste. Diese Krankheit konnte blitzartig härtere Geschütze auffahren.
Professor Dr. Rolf Kubischek legte seine Hand auf die der Weinenden.
»Wir werden alles unternehmen, dass Herr Lambers zumindest keine Schmerzen hat. Er bekommt Gemcitabin und zusätzlich vielleicht Erlotinib. Selbstverständlich komme ich unverzüglich zu ihnen nach Hause.
Haralds Gesundheitszustand verschlechterte sich von Woche zu Woche. Parallel zu den Medikamenten hatte Chantal Marihuana und später sogar Opium besorgt.
Dank dieser „Hilfsmittel“, wie es Harald ausdrückte, war er schmerzfrei. Sie unterhielten sich vor dem Kamin und hörten Musik. Oder Chantal legte sich zu ihm in Bett, um zu kuscheln und den lächelnden Kranken zu streicheln.
Professor Rolf Kubischek war ein Pragmatiker, der die angebotenen 20 000 Euro nicht verschmähte.
An zwei Tagen in der Woche besuchte er Harald und Chantal in der Villa. Weitere Untersuchungen in der Klinik waren nicht mehr angebracht.
Am späten Nachmittag des 2. April, es war ein Montag, winkte Harald Chantal mit müden Handbewegungen heran.
Er saß auf der Couch im riesigen Salon. Seit einigen Tagen wollte er nur noch die Nacht im Bett zubringen. Sie hatten zusammen Kaffee getrunken. Essen war für Harald schwierig geworden. Er musste sich fast stündlich erbrechen.
Trotzdem lächelte er. Seine blauen Augen waren glanzlos und trübe geworden. Das runzelige Gesicht hatte eine braune Färbung angenommen.
»Komm zu mir mein Engel«, flüsterte er.
Chantal lehnte sich an seine Brust. Das liebte er. Sanft streichelte er über ihre schwarzen Haare.
»Unser schöner Weg geht zu