liegen. Und das große Doppelbett da oben? Das war urplötzlich riesig – und leer. In ihre Wohnung im 22. Stock wollte sie auch nicht. Das hätte sie als Verrat an Harald empfunden.
Und plötzlich ging alles schnell. Kosten spielten keine Rolle. Innerhalb von drei Tagen ließ sie Isoldes Schlafzimmer räumen, tapezieren und neu einrichten. Der Verkäufer des Möbelhauses hatte sie zunächst völlig entsetzt angeschaut. Doch nachdem sie ihm zwei Fünfhundert-Euro-Scheine in die Hand gedrückt hatte, ließ er große Wunder Wirklichkeit werden.
Wie würde es jetzt weitergehen? Sie wollte sich in Arbeit ersäufen. Aber welche Arbeit? Termine wahrnehmen? Niemals. In das Unternehmen gehen? Nein. Dort würde sie erst wieder auftauchen … nach der Testamentseröffnung.
Viele Tage später lag sie lange wach, um über dieses Thema nachzudenken. Harald hatte nie darüber gesprochen, wie es weitergehen würde – nach seinem Tod. Einmal hatte er eher beiläufig erwähnt:
»Ich habe doch nur dich. Du bist mein Alles. Du bist eine starke Frau. Du ersetzt viele Männer. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
So war Harald. Unendlich oft hatte er Themen indirekt und verklausuliert angesprochen. Oder gar Parabeln benutzt. Wie auch immer. Jetzt galt es abzuwarten – auf die Testamentseröffnung und auf die Urne.
Nach zwei Wochen wurde die Villa für Chantal immer stiller und erdrückender. Sich totsaufen war keine Option. Deshalb lud sie Iris und Manuela ein – in die Villa.
»Ach du Scheiße«, schrie Manuela beeindruckt, als Chantal sie durch die Villa führte.
»Wird dir das jetzt nicht ein bisschen eng in deinem Wochenendhaus?«
Die Freundinnen blieben selbstverständlich über Nacht. Kichernd lagen sie spät in der Nacht zu dritt im neuen Doppelbett.
»He. Das würde deinem Harald gefallen«, quietschte Iris.
Zuvor hatten Iris und Manuela ihre Freundin unterhalten, versucht abzulenken und sie in diese andere Welt entführt. War das noch ihre Welt? Würde sie wieder in diese Welt zurückkehren? Konnte sie das? Durfte sie das? Die Zeit würde es zeigen!
Manuela war es extrem wichtig gewesen, ihrer Freundin einen lieben Gruß von Miranda auszurichten.
»Sie hat geweint, als sie das mit Harald gehört hat«, lispelte Manuela weinschwer.
Chantal blickte ihre Freundin giftig an.
»Du dumme Pute. Warum konntest du dein Maul nicht halten.«
»Sie hat immer nach dir gefragt. Und du hast sie ja nie zurückgerufen«, jammerte die Lesbe.
»Sie hängt quer in den Seilen. Ich glaube, dass sie gravierende Probleme in ihrem Job hat. Bislang schwebte sie ja irgendwo ganz weit oben.«
Zwei Tage später saß Ferdinand, der Detektiv, im Salon der Villa.
»Madame Chantal. Sie sehen mich tief beeindruckt«, hauchte der sonst so quirlige und extravertierte Mann.
Der Nachmittag ging fließend in einen langen Abend über.
»Dieser Geschäftsführer, dieser Klaus Kunzmann, ist ein riesengroßes Schwein«, hatte Ferdinand mit seinen Ausführungen begonnen.
Und anschließend berichtete er von geldgierigen Verschwörern. Marlon Larousse aus Lyon und der Geschäftsführer von HARLAM-CHEM arbeiteten an einem großen Plan. Zwischendurch wurden Gelder verschoben. Hierbei war der Finanzvorstand Eduard Zischler nicht unbeteiligt. Larousse ließ inzwischen fast alle Produkte bei HALAM-CHEM produzieren, um die Umweltauflagen in Frankreich zu umgehen. Der Franzose bekam die Produkte fast geschenkt. Kunzmann und Zischler strichen sich die Hälfte der Gewinne ein.
»Selbstverständlich habe ich aussagefähige Unterlagen«, grinste Ferdinand. »Genug, um die beiden Spinner hinter Gittern zu bringen.«
Inzwischen war es fast Mitternacht geworden.
Chantal gab ihrem langjährigen Helfer einen Kuss auf den Mund.
»Ferdinand. Für mich bist du ein Held. Dafür lasse ich mir etwas ganz Besonderes einfallen. Versprochen«, sagte Chantal lächelnd.
Anstatt sich zu freuen, setzte der liebestolle Ferdinand eine traurige Miene auf.
Chantal nahm den schmächtigen Mann in die Arme.
»Was bedrückt dich mein Freund. Spuck es aus«, gurrte Chantal.
Ferdinand hüstelte.
»Na ja. Zu Iris traue ich mich nicht mehr so recht. Da denke ich immer nur an die Peitsche. Und Manuela, das wissen wir doch inzwischen«, schnaufte er viele Male.
»Verdammter Mist. Es ist nicht mehr so, wie es einmal war.«
Anstatt eine Antwort zu geben, begann Chantal sich langsam zu entblättern.
»Das braucht jetzt dieser arme Bursche«, kicherte sie in sich hinein. »Außerdem. Es ist schon eine Weile her, dass ich mit einem Mann geschlafen habe.«
Chantal saß, wie so oft in den letzten Tagen, auf ihrer Bank auf dem Hauptfriedhof; in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung. Diese schöne Wohnung im 22. Stock hatte sie heute seit fast zwei Monaten zum ersten Mal wieder betreten.
Das war am 14. Mai; ein Dienstag.
Die Sonne blinzelte ihr ins Gesicht. Die Amseln zogen lange Würmer aus dem lockeren Boden, um ihre erste Brut in diesem Jahr zu versorgen. Zwei Eichhörnchen verfolgten sich mit atemberaubenden Sprüngen.
Morgen hatte sie einen Termin beim Nachlassgericht.
Bereits am Nachmittag war sie mit ihrem Rechtsanwalt und mit ihrem Steuerberater verabredet.
Am Tag darauf würde sie sich eingehend mit Kai Hesselberg, dem Steuerberater, unterhalten.
Das Smartphone riss sie aus ihren Gedanken.
»Hier ist deine Miranda.« Es war eine leise und traurige Stimme. Zweifellos.
»Es freut mich wahnsinnig, deine Stimme zu hören«, flötete Chantal glaubhaft.
»Ich hätte es weiß Gott verdient, dass du mich mit einem besonders dicken Filzstift aus deiner Liste streichst.«
»Streiche das Gestern aus deinem Gedächtnis. Nur das Heute und das Morgen ist wichtig. Deshalb will ich dir hiermit zuvorkommen. Ich würde mich unendlich freuen, wenn wir uns wiedersehen könnten. Wenn du willst, komme ich gerne auch zu dir.«
»Ich will ehrlich sein mein Engel«, sagte Chantal.
»Morgen bin ich beim Nachlassgericht. Die darauffolgenden Tage habe ich Termine mit meinem Rechtsanwalt, mit meinem Notar und mit dem Steuerberater. Und anschließend muss ich mich um die Firma kümmern.«
»Die Firma?«
»Ja. Ein verdammt großer Laden. Aber das ist eine lange Geschichte. Das erzähle ich dir, wenn wir uns treffen.«
»Herrjeh. Jetzt kann ich dich ein bisschen verstehen.«
Die sonst so selbstbewusste Frau seufzte vernehmlich.
»Im Moment sitze ich hier auf einer sonnigen Bank«, lachte Chantal und fuhr fort:
»Manuela hat angedeutet, dass du einige Probleme hast. Darüber zu sprechen sollten wir nicht auf irgendwann verschieben. Willst du mir ansatzweise sagen, worum es sich dreht? Komm. Wir sind doch Freundinnen. Oder nicht?«
»Ja. Selbstverständlich sind wir das. Ich liebe dich sogar. Das weißt du doch.« Sie begann
zu kichern: »Ich habe meinen Brief mit deinen Lippen noch immer auf dem Tisch stehen.«
»Mein Gott. Was sind wir für verrückte Hühner. Also. Was ist los?«
»Sie haben mich gefeuert. Ich habe mich zäh nach oben gearbeitet; in einer Männerwelt. Und diese Männerwelt hat mich jetzt ausgespuckt. Na ja. Selbstverständlich mit einer ordentlichen Abfindung.« Sie lachte und weinte gleichzeitig.