Der Professor strich beruhigend über Chantals Hände.
»Ebenso wichtig ist, dass die bösen Biester da drinnen nicht gestreut haben. Wir konnten keine Metastasen in den Knochen oder in anderen Organen feststellen. Ich darf deshalb von einer lokalen Erkrankung sprechen.«
»Und die schlechte Nachricht Herr Professor?!«
Professor Lemberg ergriff langsam die schmalen und grazilen Hände seiner Patientin. Er hatte große und warme Hände; beruhigende Hände.
»Nun. Ich habe Ihnen offene und verständliche Worte versprochen. Wir müssen zunächst das befallene Gewebe entfernen.« Er neigte seinen Kopf von der einen auf die andere Seite und blies seine Luft leise durch die geschlossenen Lippen.
»Da dieses Bist da drinnen im Verhältnis zur Brustgröße nicht unbeträchtlich ist, habe ich mich mit weiteren Experten beraten. Danach sehen wir es als geboten, weiteres Gewebe zu entnehmen. Wie groß dies sein wird, entscheiden wir während der Operation. Damit wollen wir das Risiko ausschließen, dass die Krankheit noch einmal aufflammt. Ich hoffe, dass Sie mit dieser Vorgehensweise einverstanden sind Frau Mauriac.«
Danach schwieg der Professor.
Er wollte ihr Zeit geben, das Gesagte einzuordnen.
Chantal hatte registriert, dass der Professor alles daransetzte, das böse Wort „Tumor“ zu umschiffen. Sie blickte dem Professor in die Augen. Kleine Tränen sickerten langsam über ihre Wangen.
»Da muss ich mich ganz auf Sie verlassen Herr Professor.«
Ihre Blicke wurden hilfesuchender.
»Beide Brüste Herr Professor?«
»Ja. Frau Mauriac. Leider.«
War er ein guter Schauspieler? Oder fühlte sich der Professor persönlich tatsächlich betroffen, als er mit einem tiefen Seufzer flüsterte:
»Das passiert mir nicht oft Frau Mauriac. Aber mir blutet ein wenig das Herz.« Er legte seine Hände wie eine Waagschale Chantal entgegen, um mit seiner warmen Stimme hinzuzufügen:
»Priorität hat das Leben; das Überleben.«
Er tätschelte sanft auf Chantals Hände. Hierbei versuchte er ein Lächeln aufzusetzen.
»Ich verspreche, dass wir Ihnen zwei Schmuckstücke zaubern werden, auf die sie ebenfalls stolz sein werden. Aber darüber sprechen wir nach der Operation und den notwendigen Nachbehandlungen.«
Kapitel 14
Es war eine kluge Entscheidung, die Operationen nicht in Frankfurt vornehmen zu lassen. Die Zeiten zwischen den Nachbehandlungen hätte Chantal mit Sicherheit allein in ihrer Villa zugebracht.
Nein. Im Moment wollte sie niemanden aus ihrem bisherigen Freundeskreis sehen; noch nicht einmal Iris oder Manuela. Und auch nicht Miranda.
Hier, in dieser herrlichen Klinik, wurde sie sensibel und optimal betreut. Vielleicht noch wichtiger war es, hautnah mitzuerleben, dass sie nicht allein war mit ihrem schlimmen Schicksalsschlag.
Viele Stunden unterhielt sie sich mit der gutaussehenden Frau aus dem Allgäu. Ihre beiden süßen Mädchen liebten die Mutter über alles; hingen an ihr wie Kletten. Für diese Frau, sie hieß Sonja, war es sekundär, dass ihr die Ärzte beide Brüste vollständig entfernen mussten. Sie kannte nur ein Ziel: Überleben; da sein für ihre Töchter; mit ihnen zu sprechen, zu singen und sie aufwachsen zu sehen.
Sonja war Besitzerin eines Hotels. Um das Hotel, und vor allem um die Töchter, musste sie sich keine großen Sorgen machen. Auf ihre Eltern konnte sie sich verlassen. Allerdings: Wolfgang, ihr Mann, hatte sie vor vier Monaten verlassen; war zu einer Jüngeren und Gesünderen gezogen; hatte inzwischen die Scheidung eingereicht, und war nicht darauf erpicht, die süßen Mädchen zu sehen.
Und da war Viola Straubinger. Als Chefsekretärin in einer großen Versicherung fehlte ihr nun der tägliche Stress. Im Unternehmen wusste man, warum sie hier in dieser Klinik war. Ihre größte Sorge schien zu sein, dass später alle auf ihren Busen starren würden. Nach drei Wochen musste man sie auf eine Spezialabteilung verlegen. Sie hatte versucht, sich das Leben zu nehmen.
Fünf, oder manchmal sogar fünfzehn Frauen, saßen in einer Runde, um sich unter sanfter Anleitung auszutauschen; sich ihre Sorgen von den Seelen zu reden oder gemeinsam zu weinen. Sie nahmen sich schluchzend in die Arme. Und sie fühlten hautnah, dass sie nicht alleine waren mit dieser Scheiße.
Professor Lemberg hatte Chantal im Vorfeld beruhigt. Bei ihr würden vergleichsweise wenig Bestrahlungen notwendig werden. Allerdings sei es sinnvoll und anzuraten, den Heilungsprozess mit einer Chemotherapie zu begleiten – hatte er es vorsichtig ausgedrückt. Nennenswerte Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten.
Aber trotzdem lagen jeden Tag viele ihrer langen schwarzen Haare auf dem Kopfkissen. Seitdem trug sie ihre Haare leicht hochgesteckt.
Sonja dagegen trug eine bunte Wollmütze. In einer der vielen Gruppensitzungen zeigte sie eines Tages lachend und weinend ihre Glatze. Eines Tages tauchte sie jedoch mit einer Echthaarperücke auf. Sie beteuerte schluchzend, keinen Unterschied zu ihrer früheren Haarpracht entdecken zu können. Angeblich hatte ihr gestern irgendjemand ein Päckchen mit dieser Perücke zukommen lassen. Chantal lächelte in sich hinein. Zwei Wochen zuvor hatte sie ihrer Leidensgenossin ein Foto stibitzt. Diese Szene, als die kleinen Töchterchen ihre „neue“ Mutti mit kleinen Tränchen in den Augen anstarrten, konnte man mit Geld nicht aufwiegen.
Trotz dieser segensreichen Ablenkungen schlidderte Chantal von Woche zu Woche in eine Talsohle; in eine Grube mit glitschigen Wänden, an denen sie zunehmend keinen Halt fand. Oh ja, die Betreuerinnen hatten empfohlen, in der Nacht nicht ihre Brüste, oder was davon noch übrig war, abzutasten; sich vor allem nicht vor den Spiegel zu stellen. Das sagte sich so leicht.
Deshalb, vor allem in den Nächten, haderte Chantal mit dem da oben. Sie führte viele Monologe mit ihm. Wofür hatte er sie bestraft? Sie suchte nach unendlich vielen Gründen. Sie weinte und schluchzte – bis irgendwann keine Tränen mehr kommen wollten.
Eines Tages besuchte sie Professor Lemberg in ihrem Appartement. Das war mehr als unüblich. Das hätte man ihm als kompromittierend auslegen können.
Und tatsächlich. Der Professor setzte sich zu Chantal auf die Couch – und griff unvermittelt nach ihren Händen. Hierbei blickte er in ihre Augen. Nein. Nein. Das waren keine lüsternen oder gierigen Augen. Vielmehr waren es bittende Augen.
»Ich habe mir inzwischen erzählen lassen, dass Sie gerne als „Madame Chantal“ angesprochen werden wollen. Also, Madame Chantal, ich habe eine Bitte an Sie.«
»Oh oh. Das scheint jetzt spannend zu werden«, lachte Chantal mit ihrer dunklen und warmen Stimme. »Ich bin ganz Ohr.«
»Ihnen ist doch inzwischen diese Sache mit Viola Straubinger zu Ohren gekommen?«
»Nicht nur das. Ich habe zuvor mit ihr viele Gespräche geführt.«
»Umso besser. Dann sind Sie ja voll im Thema.« Der Professor schnaufte hörbar tief durch, um leiser fortzufahren:
»Hatten Sie das Gefühl gehabt, dass diese Frau zu einer solchen Kurzschlusshandlung neigen könnte?«
»Achtzig Prozent aller Patientinnen in dieser schönen Klinik werden mit Sicherheit ein oder mehrere Male über einen solchen Schritt nachgedacht haben. Ich auch«, sagte Chantal, und versuchte schulterzuckend ein Lächeln aufzusetzen.
»Ein so hoher Prozentsatz?!« Professor Lemberg zog entsetzt seine Hände zurück, und starrte Chantal nachdenklich in die Augen.
»Mit Sicherheit könnten Sie auch ohne Hoden pinkeln. Niemand, na ja, bis auf wenige Damen, hätte eine Ahnung, dass Ihnen diese kleinen Dinger fehlen. Aber Sie wüssten es. Und das ist das Entscheidende. Mit Sicherheit sind sie jetzt hin und hergerissen zu sagen, dass man das nicht vergleichen kann.«
Der Professor lehnte