Sie sah während der Fahrt vielfach noch österlich geschmückte Ortschaften, grün werdende Wiesen, frisch umgepflügte Äcker, knospende Büsche, windschiefe Straßenbäume.
Kurz darauf spazierten sie schon auf wildbewachsenen Uferwegen am Arendsee entlang. Ihr Begleiter atmete tief.
„Mein letztes Seeabenteuer bestritt ich im vergangenen Sommer. An einem Kiefernwaldsee war ich der Große Unbekannte.“
„Na, das klingt ja mal aufregend.“
„Sie ließen damals einen roten Luftballon zerplatzen, beugten sich übers herausflatternde Papier und lasen laut vor: 'Die einzelne Birke im Umkreis von fünfzig Schritt enthält Neues. Der Große Unbekannte.“
„Wer... sie?“, fragte Gudy neugierig.
„Meine Kinder.“
„Söhne? Töchter?“ Die Frage nach einer Mutter und Ehefrau konnte sie sich gerade noch verkneifen.
„Die Tochter ist vierzehn, die Jungs elf und zwölf... Aber zurück in den Wald... Da sie drei Richtungen bei ihrer Suche einschlugen, wurde es nämlich brenzlig, wollte ich nicht vorzeitig entdeckt werden. Ich war bis dahin wacker mit dem Fahrrad durchs Wäldchen gejagt, hatte Luftballons mit diversen Hinweisen und Rätseln gefüllt und an Büsche gebunden, hatte Holzspäne händevoll verstreut, Kreuze und Pfeile in den Boden geritzt.“
„Eine Schnipsel-Jagd! So was hab ich auch gern gemacht!“
„Wie gestern weiß ich noch: In einem weiten Bogen hatte ich mich zurückgeschlichen und mich in den Hinterhalt gelegt. In der Stille summte eine Hummel neben mir. Die Hitze rieselte zwischen den Blättern hindurch auf meine Haut.
Dann hab ich die bunten T-Shirts gesehen und mir schlug irgendwie das Herz im Hals.
Die Fahrräder ließen meine Verfolger am Rande einer Baumgruppe. Dorthin wollte ich, also schob ich mich langsam vorwärts, behielt die drei wachsam im Auge. Ein Spinnennetz fuhr mir klebrig über die Wangen; ich achtete nicht weiter drauf. Waldameisen krabbelten auf meinen Arm; ich schüttelte sie vorsichtig ab. Beim Aufrichten aber knackte dann ein morscher Ast unter mir, doch ich hatte Glück. Im gleichen Moment hatten sie nämlich die Birke entdeckt und ich konnte unbemerkt mein Ziel erreichen.
Man überflog meine letzte Botschaft, klang sie doch geheimnisvoller als alle anderen: 'Ihr findet mich westwärts bei Wasser und Brot...' Mit dem Kompass bestimmten sie die Richtung, holten sich dann ihre Räder und ich hörte dabei, wie sie mich als 'ganz schön raffiniert' bezeichneten, als 'ne 'Wucht als großer Unbekannter' und sich wunderten, woher ich bloß die Einfälle genommen hatte.“
„Bestimmt haben Sie ganze Nächte mit Vorbereitungen zugebracht.“
„Und ob. Jedenfalls zogen die Kinder los, und ich radelte geradewegs zum Ziel, saß bald als Großer Unbekannter auf einem Baumstumpf am Waldsee, stipste den großen Zeh' ins Wasser und bewachte so einen riesigen Picknickkorb, bis zwischen den Kiefern die bunten T-Shirts aufleuchteten.“
„Sie müssen einen wunderbaren Vater abgeben...“
„Ich hatte auch einen wunderbaren Vater...
Der hat früher geschreinert, dem war Holz in allen Variationen der liebste Werkstoff. Modern waren ja eine Zeit lang graue löchrige Elementewände aus Beton. Eine solche wollte ich vor unser Einfamilienhaus setzen. Doch die Harmonie des alten Bauernhauses mit seinem Hausbaum und den prächtigen Pfingstrosen hätten wir dadurch gestört. Nein, ein Holzzaun im Nusston schwebte meinem Vater vor. Er begeisterte mich mit seiner Idee, so dass wir ihn zu bauen begannen.
Es wurde langsam Herbst, wir ahnten einen nahen Winter und wollten zumindest die einzelnen Steinpfeiler mit den Holzlatten quer verbinden. Im Frühjahr dann wollte ich alle Holzstreben längs nebeneinander nageln und somit die offenen Abschnitte verzäunen. Doch mein Vater war dafür, dass jedes Ding in der Welt seine Ordnung haben muss. Er entschied den Fertigbau noch vor dem Ausbruch des Frostes.
So kam es, dass eine windige kalte Woche mit heftigem Regen genau jene Zeit wurde, in der wir nun alles vollendeten. Ich behaupte mal, dass wir uns nicht nur klamme Finger, sondern auch Erkältungssymptome holten. Aber all dies wurde weggeblasen durch den Stolz, den ich selbst fühlte, als ein Vorübergehender uns neugierig und anerkennend zugleich befragte, welche 'Firma' denn hier die Bauarbeiten übernommen habe... Keine Firma, nein, nur ein einfach Mann und sein Sohn...“
„Er lebt nicht mehr, nicht wahr?“
Gudy legte ihm sacht die Hand auf den Arm, schloss, als er nickte, kurz die Augen. „Wie sagt man immer? Es sind meist die Besten, die zu früh gehen müssen.“
Sie liefen ein Weilchen schweigend. Er betrachtete seine Bekannte dabei immer wieder einmal unauffällig von der Seite. Konnte seine Bewunderung nicht verbergen. Griff auch wie selbstverständlich nach ihren kräftigen kleinen Händen.
Sie genoss seine Berührungen und strahlte.
Ein Straßencafé. Ein einzelner Tisch in der Nachmittagssonne.
„Die haben Vanille-Eis mit heißen Himbeeren“, schwärmte sie. „Meine Tochter müsste das sehen. Keinen Weg gäb's für sie dran vorbei... und für mich auch nicht.“
Als sie die langen Löffel mit den Köstlichkeiten zum Munde führten, fragte er wie nebenbei:
„Auch 'ne Tochter?“
Sie nickte lebhaft. „Und auch zwei Jungs.“
„Verheiratet?“
Jetzt schmollte sie.
„Das ist gemein. Ich habe extra nicht gefragt. Es schien mir gegen die Spielregeln zu gehen.“
„Überredet... Erzählen Sie mir von Ihren Kindern.“
„Einmal, da kam mir auf dem Heimweg von der Arbeit mein mittlerer Sohn entgegen... Ich stockte unwillkürlich und fragte besorgt: 'Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?' Ich nahm seine Schultern, machte sekundenschnell Bestandsaufnahme von meinem schmutzigen verweinten Kind. Seine Brille fehlte. Die Wange war geschwollen. Ein Knie blutete. 'Ich bin ja da... Wo tut's noch weh?' Die langsamen Schritte bis ins Haus reichten, um seinen Sturz mit dem BMX-Rad im Einzelnen zu schildern.
Vorsichtig wusch ich ihn und begriff instinktiv, dass das Knie genäht werden musste. 'Wir müssen ins Krankenhaus.... Kümmerst du dich in der Zwischenzeit um's Abendbrot?'
Meine zehnjährige Tochter gab mir ein großes Pflaster, nickte und meinte fürsorglich: 'Ich achte drauf, dass der Kleine sich wäscht und ins Bett geht, falls es länger dauert.'
Gut zwei Stunden vergingen damals, als ich mit meinem blassen Sohn im Wartezimmer der Notaufnahme saß. Den Arztwagen hatte ich wegfahren sehen, als wir gerade ankamen. Also warten. Dann hielt draußen ein Auto. Eine Tür klappte. Schritte näherten sich. Der Arzt, dachte ich, endlich. Die Treppe herauf kam mein Mann. Er beugte sich mit einem dunklen 'Na, du machst ja Sachen' über den blonden Strubbelkopf und nahm meine Hand und berichtete mir später: 'Die beiden zu Haus haben Abendbrot gegessen. Der Kleine liegt jetzt mit einem Bilderbuch im Bett. Ich habe eure Jacken mitgebracht... Ach ja, die Große hat mir für euch Äpfel mitgegeben...'“
„Ist ja niedlich“, bemerkte der Bernsteinäugige.
„Ja, und war wichtig, denn es verstrich noch eine Stunde. Wir hatten Licht im Warteraum eingeschaltet. Die leeren Stühle und kahlen Tische wirkten fremd und unbehaglich. Durch die angekippten Fenster drang kühle Luft. Mit uns warteten schließlich noch zwei junge Männer mit Schnittverletzungen an den Armen und ein älterer Herr mit einem Kopfverband...
In olivgrüner Kluft kam dann eine Ärztin, die ihr schwarzes halblanges Haar in einem dicken Zopf trug. Die Angespanntheit in ihrem noch jungen Gesicht blieb, als sie geschickt und ruhig das Knie meines Sohnes untersuchte und einer aufmerksamen Schwester Anweisungen gab.
'Wir müssen eine kleine Operation durchführen, wahrscheinlich ist der Schleimbeutel beschädigt.' Leise sprach sie mit uns Eltern, dann