Ja, sie hat mich erkannt. Bestimmt hat sie nicht vergessen, wie ich neben mir war, nur weil eine Tür hinter mir mit einem Knall ins Schloss gekracht ist. Peinlich. Wenn sich doch bloß ein Loch auftun und mich verschlingen würde. Mein Therapeut meinte immer wieder, ich müsste mich für die Panikattacken nicht schämen. In diesen Momenten fragte ich ihn im Stillen: »Würdest du das auch sagen, wenn du in meiner Situation wärst?«
Ich ringe mir ein Lächeln ab und versuche mir nichts anmerken zu lassen. »Ist er denn hier?«
»Ja.« Sie sieht sich im Studio um. »Jedenfalls war er vorhin noch da«, meint sie mit leicht zusammengekniffenen Brauen. »Wahrscheinlich ist er drüben am Gewichte stemmen. Soll ich ihn holen oder willst du ihn selbst suchen gehen?«
»Ich werde ihn schon finden. Du hast genug um die Ohren, wie ich sehe.« Ich nicke zu den wartenden Leuten, die an der Bar stehen.
»Wenn du nicht fündig wirst, kommst du einfach wieder her. Alles klar?«
»Ja, danke.« Ich gehe in jene Richtung, in die mich die Fitnessfrau mit ihrem Zeigefinger geschickt hat. Bevor ich den Raum verlasse, komme ich an einem Typ vorbei, der sich mit kerzengeradem Körper an einer Klimmstange hochzieht. Mannomann, was für eine Körperbeherrschung. Als der Kerl bemerkt, wie ich ihn anstarre, zwinkert er kurz, ehe er nach unten sinkt und sich wieder hochzieht. Ich werde rot, weshalb ich schnell weiterlaufe und betrete einen Raum, in dem jede Menge unterschiedlicher Geräte stehen.
Da entdecke ich ihn. Er steht auf einer Matte, leicht in die Knie gebeugt. In der Hand hält er eine Kugelhantel, die er zwischen seinen Beinen hin- und herschwingt. Ich bleibe stehen, wo er mich nicht sehen kann und beobachte ihn, wie er konzentriert die Übung ausführt. Nach ein paar Wiederholungen streckt er die Hantel mit einem Arm über seinem Kopf hoch.
Ich will mir keine Gedanken darüber machen, wie knackig sein Hinterteil in seiner schwarzen Shorts aussieht. Was sein Tattoo auf der rechten Wade bedeuten mag. Oder wie sich sein Bizeps wölbt, wenn er ein Gewicht hebt. Sein Anblick hat mich bereits bei unserer ersten Begegnung umgehauen. Und seine Augen, wow, seine dunklen Augen, die einen ansehen, als könnte er dich vor allem und jedem beschützen ... Sie lassen mich nicht mehr los.
Genau deshalb sollte ich mich umdrehen und mich irgendwo anders nach einer Stelle umsehen. Aber meine Füße sind wie festgenagelt. Ich stehe hier und gaffe ihn an, als wäre er mein ganzes Universum.
Evan, ein schöner Name, habe ich gesagt, als er sich mir vorgestellt hat. Wahrscheinlich fand er meine Bemerkung völlig bekloppt, aber mir ist nichts Besseres eingefallen, das nur annähernd beschreibt, was ich fühle, wenn ich seinen Namen ausspreche. Ich konnte ihm ja wohl schlecht sagen, sein Name fühle sich an, wie Schokolade, die auf der Zunge zergeht. So fühlt er sich an und so glaube ich, würde ich auch unter Evans Händen zergehen.
Stopp. Stopp. Stopp. Auf keinen Fall dürfen meine Gedanken weiterwandern.
Komm, Avery, nimm deine Beine in die Hände und geh. Der Typ dort hat dir ja jetzt schon fast den Kopf verdreht. Und du willst niemanden, der dir den Kopf verdreht, oder?
Meine innere Stimme nervt, aber sie hat recht.
Evan legt die Hantel weg und greift nach dem Handtuch, das er hinter sich an der Sprossenleiter befestigt hat. Er wischt sich über die Stirn und den Dreitagebart, ehe er sich an ein Gerät setzt, an dem er die Beine trainieren kann. Ein harter Zug ist um seinen Mund. Tiefe Ringe liegen unter seinen Augen. Eigentlich nur unter einem, das andere hat sonst jegliche Farbe bekommen. Er wirkt etwas geknickt.
Statt, dass er mit der nächsten Übung beginnt, stützt er seine Ellbogen auf den Beinen ab und lässt seinen Kopf in die Hände fallen. Dabei starrt er zu Boden. Er scheint seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Irgendwas beschäftigt ihn, das ist nicht zu übersehen. Ich würde gerne zu ihm gehen und ihn fragen, was ihm diesen traurigen Ausdruck in die Augen treibt, aber ich bin wahrscheinlich die untauglichste Person, bei der man sich das Herz ausschütten könnte.
Ich entscheide mich, an einem anderen Tag wiederzukommen, auch wenn ich ungern meinen Posten verlasse, von wo ich Evan unbefangen beobachten kann. Er hat etwas an sich, das mich in seinen Bann zieht - nicht seine jetzige Traurigkeit, sondern die Lebensfreude, die er bei unserem letzten Treffen ausgestrahlt hat. Umso schwerer fällt es mir, ohne mit ihm gesprochen zu haben, umzudrehen und das Fitnessstudio wieder zu verlassen. Umso mehr stresst es mich, dass ich nicht über meinen Schatten springen kann, um ihm zur Seite zu stehen.
Andererseits, wir kennen uns gar nicht. Weshalb er mir höchstwahrscheinlich nicht erzählen würde, was ihn plagt. Mir, einer völlig Fremden.
Ich stoße mich von der Wand ab, an der ich gelehnt habe und drehe mich Richtung Ausgang, da hält mich plötzlich eine Hand fest. Ich zucke zusammen und wirble herum.
»Was führt dich denn hierher?«
Ich bin baff, weil Evan plötzlich vor mir steht. Stotternd versuche ich mich an einer Begrüßung. »E ... Evan, schön dich wiederzusehen.« Mir brennen die Wangen, als mir klar wird, was ich soeben gesagt habe.
»Trotzdem wolltest du dich davonstehlen, ohne Hallo zu sagen?« Er lächelt, ein sympathisches Lächeln, aber es erreicht seine Augen nicht.
»Du sahst beschäftigt aus. Ich wollte dich nicht unterbrechen.«
Evan sieht über die Schulter zum Gerät, auf dem er vor wenigen Sekunden noch gesessen hat. Dann blickt er wieder mich an. Dieses Mal liegt Skepsis in seinen tiefen dunklen Augen. »So beschäftigt war ich gar nicht.«
Die Frage, warum er derart niedergeschlagen ist, liegt mir so weit vorne auf der Zunge, dass sie mir fast über die Lippen kommt. Doch ich schlucke sie schnell wieder runter. »Machst du jeden Tag Fitness?« Blöde Frage, ich könnte mir eine an die Stirn klatschen. Aber raus ist raus. Also mache ich das Beste daraus und lächle ihn an.
»Ist mein Job. Allerdings mache ich jeden Tag etwas anderes. Was ist mit dir, treibst du irgendwelchen Sport?«
Wenn er nicht so bekümmert dreinschauen würde, würde ich denken, er flirte mit mir. Jetzt glaube ich, es ist einfach seine Neugier. Schließlich stehen wir in einem Fitnessstudio.
Ich zucke mit der Schulter, hoffe, dass ich dabei gleichgültig wirke. Dabei kippt mir fast die Stimme. Ungebetene Erinnerungen steigen vor meinem inneren Auge auf. Es erstaunt mich, als ich zu reden anfange. »Früher bin ich viel gejoggt. Ich habe es geliebt, durch den Wald und über weite Wiesen zu rennen, und die frische Morgenluft einzuatmen.«
»Früher? Das heißt, dass du nicht mehr joggst oder dass du gar keinen Sport mehr machst?«, möchte er wissen, dabei mustert er mich mit einem bewundernden Blick von Kopf bis Fuß.
Ich atme erleichtert auf, da es ihm zu entgehen scheint oder einfach darüber hinwegsieht, wie aufgewühlt ich mit einem Mal bin. »Ich mache jeden Morgen ein paar Gymnastikübungen.«
Ich lese in seinem Gesicht, dass er mich gern fragen möchte, warum ich nicht mehr durch Wälder und über Wiesen jogge, doch er hält sich zurück. »Dann willst du jetzt mit Fitness beginnen? Willst du ein Abo bei uns machen?«
Ich schüttle vage den Kopf. »Eigentlich nicht.«
Evan zieht nachdenklich die Stirn in Falten, ehe er seinen Kopf etwas zur Seite legt. »Warum bist du dann hier?«
Jetzt oder nie. Das ist meine Chance. Ich schaue von meinen verschränkten Händen auf. »Ich habe gehört, ihr könntet jemanden für die Bar gebrauchen und vielleicht für sonst irgendwelche Arbeiten. So etwas wie ein Mädchen für alles.«
Gott, habe ich das jetzt wirklich laut ausgesprochen? Nach Evans schmunzelnden Gesichtsausdruck zu urteilen, würde ich sagen, ja. Ihn scheint das aufzuheitern, trotzdem würde ich mich gerne im Erdboden verkriechen.
»Von wem hast du das denn gehört? Ich habe nämlich keine Stelle ausgeschrieben.«
»Von Cécile. Sie führt das Blue House Inn auf der anderen Seite von Little Pearl. Ich habe ein Zimmer bei ihr.«
»Ach ja?« Er zieht verwundert