Madlen Schaffhauser

Little Pearl


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bist du eigentlich so spät?«

      »Und warum musst du so früh am Morgen schon herumstressen? Wir haben genug Zeit«, antworte ich genervt, lasse dann aber den Motor aufheulen und presche über die noch fast menschenleere Straße.

      »Du siehst ausgelutscht aus. Wohl zu wenig Schlaf bekommen. Oder bist du nochmal gegen eine Hantel getorkelt?« Bestimmt grinst er wie ein riesiger Idiot. Da ich gerade einen alten Opa in seinem Renault überhole, kann ich ihm keinen Du-kannst-mich-mal-am-Arsch Blick zuwerfen.

      »Würde dich freuen, was?«, sage ich etwas wütender als beabsichtigt.

      »Was ist denn mit dir los? Etwa keine abgekriegt?«

      »Nichts dergleichen. Ich hatte keinen Bock auf irgendwelche Tussis. Nach der Arbeit bin ich in meine Wohnung, habe mich aufs Sofa fallen lassen und durch Netflix gezappt.«

      Ich kann Kyles ungläubigen Blick regelrecht spüren. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen. Evan bleibt am Samstagabend freiwillig Zuhause? Alleine? Du willst mich definitiv verarschen.«

      »Ich war müde, es war ein anstrengender Tag.«

      Die Wahrheit ist, ich hatte nur eine im Kopf. Und die geistert noch immer in meinen Gedanken herum.

      Kaum zu glauben, dass mich eine kurze Begegnung mit einer Unbekannten so aus der Bahn werfen kann.

      »Und wo hast du dich herumgetrieben?«, lenke ich das Thema von mir ab. »Hattest du endlich ein Date mit Leyla?«

      »Und wenn es so wäre?«

      Mein Kopf ruckt in seine Richtung. »Im Ernst jetzt?«, frage ich mit einem riesigen Schmunzeln um den Mund.

      »Nee.«

      »Warum nicht?« Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee, den ich vorhin im Starbucks geholt hatte.

      »Ich steh nicht auf Jüngere.«

      Der Kaffee spritzt mir aus dem Mund gegen die Windschutzscheibe und ich baue fast einen Unfall, weil ich mich vor Lachen kaum mehr halten kann. Dabei boxt mir Evan noch eins in den Oberarm.

      »Reiß dich gefälligst zusammen, oder willst du, dass wir im Straßengraben landen.«

      »Dann schlag mich nicht.«

      »Das war bloß eine feine Berührung.«

      »Gib mir ein Tuch, damit ich die Sauerei wegwischen kann.«

      »Woher soll ich ein Tuch haben?«

      Ich stoße laut die Luft aus. »Dann gib mir eben ein Taschentuch oder sowas.«

      Kyle wird im Handschuhfach fündig.

      »Leyla ist mindestens ein Jahr älter als du, du Blödmann«, greife ich das Thema von vorhin wieder auf und putze meinen mit Kaffee verdünnten Sabber weg.

      »Wirklich?«, nimmt mich Kyle auf den Arm. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Er kennt sie also einiges besser als ich.

      »Hör auf, mich zu verscheißern.«

      Er zuckt bloß mit den Schultern, ehe er meint: »Sie hasst mich.«

      »Und trotzdem hat sie dich letztens aus einem schrecklich nervenaufreibenden Date gerettet.« Zwischen den beiden läuft irgendwas, ich weiß es.

      »Ja, aber ...«

      »Oh, jetzt kommt das große ABER.«

      »Halt die Klappe.«

      »Welche?«

      »Wenn du nicht gerade am Steuer sitzen würdest, würde ich dir sofort ein zweites blaues Auge verpassen. Ach übrigens, hast du wirklich geglaubt, ich würde dir das mit der Hantel abkaufen?«

      Meine Antwort besteht aus einem gleichgültigen Schulterzucken. »Für ein paar Stunden schon, ja.« Eigentlich war mir von Anfang an klar, dass er irgendwann dahinterkommen würde, was mein geschwollenes Auge anbelangt, mit dem ich endlich wieder normal sehen kann. Und mich Kyle dann zur Rede stellen würde.

      »Also -« Mein Bruder sieht mich abwartend von der Seite an.

      »Ich habe mich mit Sawyer geprügelt.«

      »Sawyer? Dylan Sawyer, der Freund unserer Schwester?«

      »Ex-Freund. Genau der.«

      »Warum? Was ist ... Was hat er getan?« Für einen Moment herrscht Stille, bis Kyle tief ein- und ausatmet. »Geht es Cee gut?«

      »Ich denke den Umständen entsprechend.« Kyle braucht nicht nochmal nachzufragen, was Sawyer verbrochen hat, ich erzähle ihm alles, was ich von Emily und Cee erfahren habe, und dass ich dann Dylan einen Besuch abgestattet hatte.

      Gut, sind wir weit weg von Little Pearl. So ist Kyles Wut auf Dylan verraucht, bis wir wieder Zuhause sind – hoffentlich. Ich glaube nicht, dass uns Cee verzeihen würde, wenn auch noch Kyle auf Dylan losgehen würde.

      Irgendwann tauchen die Schilder von Phillys auf. Schließlich, nach mehreren Minuten Suche, finden wir das Gelände, wo das Rollstuhlrennen ausgetragen wird. Und nach weiteren Minuten sehen wir den Rest der Familie. Außer Cécile.

      »Bist du dir sicher, dass es ihr gut geht?« Kyle hat die Hände zu Fäusten geballt, als wir langsam über die Anlage gehen. Er ist sichtlich wütend, aber auch besorgt.

      »Sie klang ganz okay, während ich mit ihr telefoniert habe.«

      »Hoffentlich liegst du richtig damit.«

      »Beruhige dich, Bruder, lass uns den Tag genießen und Dad anfeuern.« Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und stoße ihn vorwärts.

      Hannah sieht uns als Erste. »Da seid ihr ja endlich!«, ruft sie gut gelaunt. Ich fahre ihr über die blonden Haare, die sie an den Seiten nach hinten geflochten hat. Schnell bückt sie sich unter meinem Arm weg. »Mach meine Frisur nicht kaputt. Weißt du, wie lange ich dafür gebraucht habe?« Sie fährt sich behutsam über den Kopf.

      »Hübsch«, antworte ich schmunzelnd und drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel, bevor sie mir ganz entwischt. Sie reicht mir gerade mal bis zur Schulter. Sie hat ja noch etwas Zeit zu wachsen. Jedenfalls finde ich es richtig bequem, wie ich meinen Arm auf ihrer Schulter ablegen kann.

      »Ich bin nicht deine Stütze.« Ihre Sommersprossen leuchten auf der Nase, wenn sie sich aufregt, während ihre braunen Augen zu Schlitzen gezogen sind.

      »Ärgerst du mal wieder deine kleine Schwester?« Mom schnalzt mit der Zunge, doch sie lächelt mich liebevoll an. Sie ist es gewohnt, dass wir Geschwister uns kabbeln, wann immer es geht. »Habt ihr gut hergefunden?«

      »Kyle hat ein bisschen genervt, sonst verlief alles ruhig.«

      Kyle verpasst mir von hinten einen Stoß, sodass ich fast nach vorne kippe. »Du hast genervt, und bist hergerast wie ein Irrer.«

      Ich drehe mich zu meinem Bruder um. »Du hast gesagt, ich solle Gas geben«, verteidige ich mich.

      Wir benehmen uns wie zehnjährige, allerdings entlockt es Mom ein herzhaftes Schmunzeln. »Schön, dass ihr hier seid.« Sie drückt uns je einen Kuss auf die Wange, wobei mir ihre dunkelblonden Haare im Gesicht kitzeln. »Jetzt fehlt nur noch Cécile.« Mom blickt über meine Schulter. »Ist sie nicht mit euch hergefahren?« Ihre braunen Augen blicken fragend in meine.

      »Sie meinte, wir würden sie hier treffen.«

      »Kommt sie etwa mit Dylan?« Ihr Blick verharrt etwas zu lange auf meinem blauen Auge. Sie sieht mich an, als würde sich ein fehlendes Puzzleteilchen an seinen Platz fügen.

      Ich schlucke angestrengt. Wieso müssen eigentlich alle mich nach Dylan und Cee fragen, verflixt. Ich will nicht der sein, der Mom erzählt, dass Dylan sich gegenüber Cee wie ein riesiges Arschloch verhalten hat. Ich will sie aber auch nicht anlügen. Was ich zwar gestern getan habe, als ich vor der Arbeit kurz bei ihnen vorbeigesehen habe. Ich konnte Mom und Dad nicht sagen, dass ich mich mit Dylan geprügelt habe.

      Kyle neben