Ingrid Kaltenegger

Echte Kerzen wären schon schöner. Neue Weihnachtsgeschichten


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die Steine warfen.

      »Bassam, was ist das?«

      »Das ist ein Friedhof, Sanna.«

      »Was ist ein Friedhof?«

      »Da werden die Toten begraben. Weißt du das denn nicht?«

      »Doch, schon. Aber ich hab noch nie einen gesehen.«

      Bassam überlegte kurz, dann fiel ihm ein, dass er in seiner alten Heimat öfter mit seiner Großmutter auf dem Friedhof gewesen war, um das Grab seines Großvaters zu besuchen. Sanna war damals noch gar nicht auf der Welt oder zu klein gewesen; und in ihrer neuen Heimat gab es kein Grab, das sie besuchen konnten.

      »Schau mal, wie schön das ist.« Sanna ließ Bassams Hand los und lief ohne Furcht zwischen den Gräbern davon. »Die Lichter, sie flackern so schön.«

      »Sanna! Komm zurück! Es ist dunkel, du könntest verloren gehen. Das ist gefährlich!« Bassam rannte ihr nach, und seine Stimme war voller Angst.

      Da holte er sie ein, und beide Kinder fanden sich am Abgrund einer tiefen Grube wieder. Sanna wankte ein wenig, Bassam zog sie zurück.

      »Schau, ich sage ja, das ist gefährlich. Wir könnten in eine Grube fallen, dann tun wir uns weh und kommen nicht mehr raus. Weine nicht, ich bitte dich, weine nicht. Wir suchen uns einen trockenen Platz, und dann essen wir die Dinge, die uns die Khala mitgegeben hat.«

      Er nahm die kleine Schwester am Arm und führte sie von der Grube weg in Richtung eines Gebäudes, das er ein Stück weiter weg gesehen hatte. Es war eine kleine Kapelle, und Bassam hielt den Atem an, als er die schwere Türklinke nach unten drückte. Sie gab nach, und die Tür öffnete sich langsam, nachdem er mit seinem ganzen Gewicht dagegengedrückt hatte.

      »Schau, Sanna, jetzt wird alles gut. Da drinnen ist es ein bisschen wärmer, da können wir uns den Schnee abschütteln und unsere Brote essen. Vielleicht finden wir auch etwas zu trinken.«

      »Ja, Bassam.«

      »Komm, ich schüttle dir den Schnee ab, damit du nicht ganz nass wirst. Und dann setzen wir uns hin und essen.«

      »Ja, Bassam.«

      »Wir dürfen aber nicht schlafen, es ist zu kalt. Ich hab in einem Buch gelesen, dass man erfrieren kann, wenn man einschläft.«

      »Nein, ich werde nicht schlafen«, sagte das Mädchen matt.

      Erst als sie sich hingesetzt hatten, merkten sie, wie müde sie inzwischen waren. Bassam wickelte die Brote aus dem Papier, auch zwei Mandarinen und eine kleine Tafel Schokolade waren dabei. Sanna aß begierig, erst eines der Brote, dann von dem zweiten auch noch einen Teil. Den Rest reichte sie Bassam, als sie sah, dass er nicht aß. Er nahm es und aß es auf. Von da an saßen die Kinder und schauten sich um.

      »Können wir uns auf eine Bank setzen?«, fragte Sanna. Sie stellte sich in den Mittelgang und streckte die Arme in beide Richtungen aus. »Warum sind hier so viele Bänke? Ist das eine Schule?«

      »Nein, du Dummerchen. Das ist eine Kirche. Hierher kommen die Menschen, um zu Allah zu beten. Und in den Bänken können sie sitzen.«

      »Aber in der Moschee gibt es keine Bänke. Ich bin kein Dummerchen.«

      »Ja, du hast recht. Das ist aber auch eine Kirche und keine Moschee.«

      Sie kletterten in die hintere Reihe, Bassam stellte seine Füße auf das kleine Bänkchen, und Sanna lehnte sich an ihn.

      »Ich werde dir eine Geschichte erzählen, damit du nicht einschläfst.«

      »Ja, Bassam.«

      Er erzählte ihr von ihrem Haus in Aleppo, von den weißen Mauern, die den Hof umschlossen, und von den Orangenbäumen, die im Garten wuchsen. Von der Großmutter, deren Bild in seinem Inneren immer mehr verblasste, und von den Ausflügen ans Meer, die sie manchmal unternommen hatten. Nach einer Zeit empfand er ein sanftes Drücken gegen seinen Arm, welcher immer schwerer wurde. Sanna war eingeschlafen und lehnte sich an ihn.

      »Sanna, schlaf nicht, ich bitte dich, schlaf nicht«, sagte er.

      »Nein«, lallte sie schlaftrunken, »ich schlafe nicht.«

      Er rückte weg von ihr, um sie in Bewegung zu bringen, sie aber sank um und hätte auf der Bank liegend weitergeschlafen, wenn er sie nicht an der Schulter genommen und gerüttelt hätte. »Komm, Sanna, wir sehen uns die Kirche jetzt an. Wir gehen rundherum und schauen uns alle Bilder an. Dann werden wir wieder wach.«

      »Ich mag nicht mehr gehen, Bassam. Ich bin so müde, und kalt ist mir auch.«

      »Ja, Sanna, ich weiß. Aber ich zeig dir alles, schau mal, da sind Bilder von Engeln, und diese Frau da, das ist die Maria.«

      »Wer ist Maria?«

      »Ich weiß es auch nicht genau. Die Mama von Jesus.«

      »Ich will zu Mama, Bassam.« Das Wort Mama war wohl zu viel für Sanna, sie zog den Kopf zwischen die Schultern und begann zu weinen.

      »Ich weiß, hör auf zu weinen. Bald ist die Nacht vorbei, dann gehen wir den Weg wieder zurück und fragen jemanden. Mama sucht uns sicher schon überall, und Papa auch.«

      Sie waren seitlich an den Bänken vorbeigegangen, magisch angezogen von dem großen Tisch ganz vorne, von den Blumen und den Kerzen. Und weil es so dunkel war, sahen sie den großen Baum erst, als sie direkt davorstanden. Geschmückt mit Strohsternen und silbernen Kugeln stand der Tannenbaum links vor dem Tisch. Sanna blieb ehrfürchtig stehen, streckte immer wieder ihre kleine Hand aus, berührte eine Kugel, strich über einen der Zweige, und dann begannen ihre Augen zu leuchten. Bassam sah es, obwohl es so dunkel war. Er folgte ihrem Blick und entdeckte das Baby, das in einer Futterkrippe lag, daneben ein Mann und eine Frau, die sich über das Kind beugten. Natürlich wusste Bassam, dass es keine echten Menschen waren, sie waren ja auch viel kleiner und aus Holz, aber trotzdem. Das Kind hatte große blaue Augen und Locken und sah so schön aus, dass man meinen konnte, es schliefe da wirklich ein Kind auf seinem Bett aus Stroh. Sanna stieg über den kleinen Zaun und hockte sich direkt vor das Kind, gleich neben seine Mutter aus Holz. Und obwohl Bassam wusste, dass dies bestimmt verboten war, sagte er nichts und tat es seiner Schwester gleich. »Schau mal, Bassam, da ist auch eine Kuh und ein Esel, und das Baby liegt auf einer Decke.« Das Mädchen berührte das Gesicht des Kindes so vorsichtig und zärtlich, dass man meinen konnte, sie glaubte, es wäre ein echtes.

      Vergessen schienen die Kälte und die Müdigkeit, Sanna hockte glückselig vor der Krippe und betrachtete alles genau. »Was macht das kleine Baby hier, Bassam?«

      Er erinnerte sich an die Geschichte von der Geburt des Jesuskindes zu Weihnachten und dass seine Eltern arm und auf der Flucht gewesen waren, und dies versuchte er seiner Schwester so langatmig wie möglich zu erzählen, so dass sie alles andere ringsherum vergessen mochte. »Und deswegen feiert man hier Weihnachten, weil da das Jesuskind geboren wurde«, beendete er schließlich seine Geschichte. Da sagte Sanna:

      »Wir waren auch auf der Flucht, oder? Als wir zu Papa gezogen sind, da waren wir auf der Flucht.«

      Bassam sagte nichts, konnte er sich doch noch daran erinnern, wie die Mutter der kleinen Schwester damals immer von einer großen Reise erzählt hatte, einem aufregenden Abenteuer, aber Sanna hatte anscheinend genau gewusst, warum sie diesen langen Weg auf sich genommen hatten.

      Wie er da so erzählte und auch ein wenig nachdachte, setzte sich Sanna auf den Boden und grub ihre Füße unter das Stroh, das rund um die Figuren ausgestreut war. Da kam Bassam eine Idee: Er schob das Stroh in einer Ecke zusammen, nahm das Jesuskind vorsichtig hoch und zog die graue Decke darunter hervor. »Da Sanna, hier kannst du dich hinlegen und ein bisschen schlafen, das Stroh ist weich, und ich decke dich damit zu.«

      Die kleine Schwester sah ihn dankbar an und streckte sich im Nu aus. Er wickelte die Decke um ihren Körper, zog ihr die Kapuze über den Kopf und setzte sich ganz nah zu ihr. Sie plapperte noch ein bisschen über Weihnachten, dass sie auch einen Christbaum wollte und das Jesuskind liebte,