Körper, der sich schon viel wärmer anfühlte, und dachte nach. Was würden wohl Mutter und Vater jetzt tun? Wie spät mochte es nun sein? Mitten in der Nacht, das wusste er, aber waren sie schlafen gegangen? Suchten sie nach ihnen? Gemeinsam mit der Tante? Doch wo sollte man sie denn suchen, in dieser großen Stadt. Er wusste ja gar nicht, ob sie überhaupt noch in der Stadt waren, schließlich sah das hier alles so anders aus. Würden sie mit ihm schimpfen? Ihm die Schuld geben? Vielleicht waren sie auch zur Polizei gegangen, obwohl er das nicht glaubte, denn er wusste, dass seine Eltern Angst vor der Polizei hatten, auch wenn sie das nie sagten. Aber er spürte das, wie sie ihn immer an der Hand nahmen, wie sie schnell die Straße überquerten, wenn der Polizist am Weg zur Straßenbahn an der Ecke stand, obwohl dieser ihn schon einmal freundlich angelächelt hatte.
Ein ganz kleines bisschen würde er jetzt auch die Augen zumachen, hier war es ja wärmer, sie würden schon nicht erfrieren, und Sanna hatte er fest eingewickelt. Morgen früh, wenn es hell war, dann würde er den Weg finden, dann würde er jemanden fragen und seinen Eltern alles erklären …
»Oh mein Gott! Was ist das denn?«
Bassam schreckte aus dem Schlaf hoch und sprang auf die Beine, die fast unter ihm nachgaben, so kalt waren sie inzwischen geworden. Vor ihm stand ein großer, dicker Mann mit einem Bart und starrte ihn an. Für einen Moment bewegte sich keiner von ihnen, Bassam war wie gelähmt. Es fiel ihm auch kein einziges Wort ein, zumindest nicht in der Sprache, die der Mann verstehen würde. Und dann bewegte sich Sanna zu seinen Füßen, wühlte sich aus ihrer Ecke, setzte sich auf, gähnte und streckte die Arme von sich, gerade so, als wäre sie zu Hause in ihrem eigenen Bett und müsste jetzt aufstehen, um in den Kindergarten zu gehen.
»Was, in Gottes Namen, macht ihr hier, Kinder? Was macht ihr in unserer Krippe?«
»Wir sind Bassam und Sanna und haben uns verlaufen«, antwortete Bassam in seinem besten Deutsch, und Sanna riss die Augen auf und fragte:
»Bist du Gott?«
INGRID KALTENEGGER
Momenti divini
Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura
chè la diritta via era smarrita.
Auf der Hälfte des Weges unseres Lebens
fand ich mich in einem finsteren Wald wieder,
denn der gerade Weg war verloren.
Die Göttliche Komödie, Inferno, Dante Alighieri
Ich hätte darauf bestehen sollen, dass Nico die Funzel im Flur austauscht.
»Die Decke ist fünf Meter hoch, Carmen, und eine Energiesparbirne hält ewig.«
Dadurch unterscheidet sich die Energiesparbirne von allem anderen. Die Leiter hat er mitgenommen.
Ein handgeschriebenes Kuvert unter den Rechnungen und Prospekten. Die Musikschule. Immerhin. Wünscht mir ein frohes Fest und hofft auf gute Zusammenarbeit im neuen Jahr. Aha.
Kann ins Altpapier.
Ich schlüpf aus den Stöckeln und trage die Einkäufe ins Wohnzimmer. Billa, Billa, Sapori d’Italia, Douglas, Douglas, Douglas, Brot. Eine der nachhaltigen Tragetaschen bleibt aufrecht stehen. Da ist Tonicwater drin, eine Gurke und zwei Flaschen Gin, in Geschenkpapier. Mit Selbstbetrug hat das nichts zu tun. Selbstschutz trifft es eher. Du weißt nie, wer dich beim Einkaufen sieht. Deshalb auch die Pumps, au.
In der Tasche vom italienischen Feinkosthändler nur eingelegtes Gemüse in durchsichtigen Plastiktöpfchen – die Oliven, der Wahnsinn – und ein Panettone. Den hat mir die Verkäuferin dazugepackt, strahlend, diesen Kuchen in der Schachtel. Als Geschenk für treue Kundinnen. Dabei war ich das ganze letzte Jahr nicht dort. Außerdem mag ich keine Aranzini. Rosinen auch nicht. Trockenfrüchte generell.
Apropos.
Bei Douglas verpacken sie die Geschenke heuer mattschwarz mit glänzenden Schleifen. Eigentlich wollte ich nur die Meeresalgenmaske kaufen. Ich weiß wirklich nicht mehr, was in den sechzehn anderen Päckchen ist. Umso besser, Überraschung muss sein.
Ah, das Badekugel-Sortiment. Hübsch. Sehen aus wie Pralinés oder kleine Törtchen aus Seife, in Blüten gewälzt. Zimt, Orange, Vanille. Divine Moments. Da fällt mir auf, es ist ja still.
Ausnahmsweise hämmert keine elektronische Dance Music zu mir herunter. Sie werden zu Hause feiern, die Studenten. Mit ihren Eltern, die völlig versagt haben, nicht nur, aber vor allem, in der musikalischen Erziehung ihrer Kinder.
Alle sind bei den Eltern oder den Kindern, wie Frau Neher, die im zweiten Stock wohnt und immer sagt, dass sie der Lärm nicht stört.
Stille. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Prost.
Seit Nico weg ist, höre ich fast überhaupt keine Musik mehr. Auf dem Handy, wenn überhaupt. Schon über ein Jahr.
Das Schlimmste war sein Glück. Er hat versucht, es sich nicht anmerken zu lassen. Ein schuldbewusstes Gesicht gemacht, aber gepfiffen. Wie er das CD-Regal ausgeräumt hat. Gepfiffen vor Glück und weit mehr mitgenommen, als ihm gehört hat. Egal, die Zauberflöte mit Lucia Popp als Königin gibt’s auf Youtube auch.
Ich könnte ihn anrufen. Wo ich das Handy schon in der Hand hab, mein ich. Ja, nein, die Therapeutin wär nicht dafür.
Wir haben Weihnachten gefeiert, wir zwei Waisenkinder – legendär. Bei Carmen und Nico biegt sich der Tisch. Wer am Heiligen Abend bei uns war, hat gewusst, dass er für den 25. besser keine Termine annimmt. Wenn ich fürs Weihnachtsoratorium gebucht war – in der ersten Hälfte sind ja nur wenige Sopranpassagen –, hab ich oft noch spontan Kollegen mit nach Hause gebracht. Nico hat am 24. immer schon pausiert. Das hat er sich geleistet, obwohl er Blechbläser ist. Blechbläser + Weihnachtszeit = Goldgrube. Er hat den ganzen Tag gekocht: koscher, halal, vegan, egal. Jedes Mal hab ich gedacht, es wär viel zu viel, aber irgendwann, gegen Morgen, war alles weg. Und immer hat’s geschneit.
Ha, natürlich nicht, aber einmal haben wir eine Schneeballschlacht gemacht. Dabei ist Nico ausgerutscht und hat sich den kleinen Finger gebrochen. »Für jeden anderen Musiker eine Katastrophe«, hat er verkündet, »nur nicht für den Posaunisten!« Er hat ein paar Ibuprofen mit Obstler hinuntergespült und weitergefeiert bis zum Morgen.
Wir waren uns einig. Erst die Karriere, dann ein Kind. Beide. Und als es so weit war, die Nudeln und der Hoferwein abgelöst wurden von gebeiztem Lachs und dem Morillon, da waren meine Pap-Werte so schlecht, dass mir die Frauenärztin riet, mich am besten von meiner Gebärmutter zu verabschieden. Verkürzt ausgedrückt. Das muss ungefähr die Zeit gewesen sein, in der Nico mit Elsa Bekanntschaft machte. Und mit ihrer Gebärmutter.
»Carmen! Was gibt’s?«
Ich hab nicht damit gerechnet, dass er rangeht. Man kann hören, wie mein Herz an meinen Kehlkopf schlägt, als ich »Hallo, Nico« sage. Im Hintergrund kräht etwas. Das muss das Kind sein. Ich ziehe die Mundwinkel nach oben. Auch ein gezwungenes Lächeln hilft gegen einen bitteren Tonfall. »Ich wollte nur schnell frohe Weihnachten wünschen, bevor die Gäste kommen.« Seit Tagen denke ich darüber nach, wen ich eingeladen haben könnte: Andrea, Sybille und Claudio. Zu denen hat er keinen Kontakt. Umsonst, er würgt mich ab, freundlich. »Die Gans.«
Freundlich abgewürgt ist auch tot. Die Gans könnte ein Lied davon singen.
Ich geh in die Knie. Leg mich auf den Boden. Platz ist genug, seit er den Flügel abholen lassen hat. Meine Finger streichen über die Abdrücke der Rollen im Teppich, wo sich die Fasern einfach nicht mehr aufrichten wollen. Elsa. Kind. Gans. Kirche. Natürlich, schon wegen der Schwiegereltern, unwesentlich älter als er. Die singen dort im Chor. Das gönn ich ihm.
Meine Therapeutin rät zu radikaler Akzeptanz. Es sei nun einmal alles nicht zu ändern, und ich müsste doch jetzt langsam sehen, wie