Bernd Naumann

Unser Moritz


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Statt zu essen beginnt sie, die Stücke auf ihrer Tischseite zu stapeln. „Ich weiß schon“, kommentiere ich ihr Verhalten. „Die Figur!“

      Helgas alter Reisewecker steht wieder mal, aber unserem Gefühl nach ist es schon nach 24 Uhr. Halb so schlimm, wenn man Urlaub hat und am nächsten Tag ausschlafen kann. Das zweite Bett bleibt heute erst einmal unbenutzt, und wir plaudern noch ein bisschen über den Tag und über unsere Vorhaben nach dem Urlaub. „Wie fühlst du dich denn so – als Hausbesitzer?“, fragt Helga. Ich weiß nicht, wie ich mich fühle. Es ist mir irgendwie noch nicht klar geworden, dass es so ist und was es bedeutet.

      „Und weißt du, was wir beide mitnehmen, wenn wir das nächste Mal in Erlabrunn sind?“ Ich muss einen Moment überlegen, bis ich darauf komme, was Helga meint.

      „Ja, ich weiß – unseren kleinen Kater …“

      Viele Wege führen von unserem Beckerwitz an den Strand der Ostsee. Wir versuchen, die reizvolle Umgebung unseres Urlaubsortes aus allen Blickwinkeln kennenzulernen. Heute haben wir uns für den schmalen Sandweg entschieden, der, eingesäumt von verkrüppelten alten Weiden, durch die leicht hügelige Landschaft führt. Ausgedehnte Grasweiden und die gelben Flächen gerodeter Getreidefelder prägen das Bild zu beiden Seiten unseres Weges. Schwarzweiß gescheckte Kühe heben die Köpfe und begrüßen uns mit lautem Gebrüll. Nur vereinzelte Baumgruppen finden sich in dem ausgedehnten Weideland, und ein paar einsame Bauerngehöfte verstecken sich hinter den mächtigen Kronen betagter Laubbäume. Die alten, schilfbedeckten Gebäude ducken sich Tarnung suchend auf den Boden, fügen sich in die Landschaft, als wären sie ihr entwachsen.

      Die Sonne steht Anfang September nicht mehr allzu hoch, doch die Sicht ist klar, und das malerische Vorland der Ostsee leuchtet in satten Farben.

      „Richtiges Fotowetter!“, sage ich zu Helga begeistert. Wir verlassen den Sandweg und laufen quer über ein Stoppelfeld der blauen See entgegen. Die harten Stoppeln dringen zwischen den Riemchen in Helgas Sandaletten ein und erschweren ihr das Laufen. Sie hält sich bei mir fest und erzählt weiter von ihrem Mephisto.

      Mephisto hieß ihr schwarzer Kater in Spremberg, ihrem alten Heimatort. Immer wieder kommt Helga auf das anhängliche Tier zu sprechen.

      „Er war sehr scheu und hörte auf niemanden. Nur auf meine Stimme reagierte er. Manchmal sah ich ihn weit draußen im Feld – nur als kleinen unscheinbaren Punkt. Aber hörte er mich rufen, machte er sich gleich auf den Weg, und es dauerte nur wenige Minuten, bis er sich daheim einfand. Mephisto wusste auch genau, zu welcher Zeit ich vom Dienst kam. Er lief mir ein großes Stück entgegen und wartete dann immer an derselben Stelle. Nach freundlicher Begrüßung stieg ich wieder auf das Rad, und Mephisto trottete wie ein kleiner anhänglicher Hund die ganze Strecke bis nach Hause neben dem Fahrrad her.“

      Die Katze gehört zu den ältesten Haustieren des Menschen. Wir versuchen uns an all das zu erinnern, was wir darüber schon gehört und gelesen haben. Im alten Ägypten galten Katzen als heilige Tiere und genossen die Hochachtung der Menschen. Keiner hätte es gewagt, solch ein Tier zu quälen oder zu töten. Die Kulthandlungen einer bestimmten Priesterschaft standen sogar in engem Zusammenhang mit der Wertschätzung dieser Tiere.

      Wir empfinden unsere Übereinstimmung als glücklichen Umstand. Beide zählen wir zu jenen Menschen, die Katzen bewundern und Zuneigung für diese gewandten, kuscheligen Wesen empfinden.

      Meine erste Bekanntschaft mit allerlei Tieren führt in die Kindheit zurück. Gern erzähle ich Helga von den Erlebnissen bei Tante Klara. Der Krieg hatte es mit sich gebracht, dass wir Chemnitz verlassen und einige Zeit bei Tante Klara in dem erzgebirgischen Dorf Sosa leben mussten. Hier waren wir vor den Bombenangriffen geschützt, und die kleine bäuerliche Wirtschaft sicherte uns das Notwendigste zum Leben. Ein mittelgroßer Raum war der Aufenthaltsort von vier Generationen – war Wohnraum und Küche in einem. Und hinter dem großen, gusseisernen Ofen wurde gebadet. Nicht selten rannten auch noch frisch geschlüpfte Küken in dem Zimmer umher, kleine Ziegen wurden aus dem Stall geholt, und selbstverständlich hatte auch eine Katze hier ihr Zuhause. Tante Klara veranstaltete mir zuliebe kleine Zirkusveranstaltungen und führte Kunststücke vor, die sie mit den Tieren eingeübt hatte. Sie war eine sehr tierliebende Frau. Und als die Katze eines Tages humpelnd durch das Fenster in die Wohnstube zurückkehrte, wurde sie behandelt und gepflegt, bis das verletzte Bein wieder in Ordnung war.

      Kurz vor meiner Einschulung erhielten die Eltern endlich eine eigene, zumutbare Wohnung. Es bedeutete Umzug nach einem ganz kleinen Ort – wenige Kilometer von Sosa entfernt. Das fast 800 Meter hoch liegende Dorf war bei starkem Schneefall oft von der Umgebung abgeschnitten. Hier lebten vorrangig Bauern mit ihren Familien. Pferde und Kühe, Schafe, Hunde, Gänse und Hühner gehörten zum Alltag des Lebens in dem kleinen Ort.

      Zur Anschaffung eines eigenen Hundes oder einer Katze aber waren meine Eltern nicht zu bewegen. Doch bald sammelten sich in unserem Garten herrenlose kleine Kätzchen. Ich versorgte sie regelmäßig mit Milch. Die Aufwendungen zur Versorgung der Kätzchen wurden ständig größer. Ich errichtete schließlich aus Bretterresten ein richtiges Katzenhaus, das ich mit Heu auslegte und über Batterieanschluss sogar mit elektrischem Licht versorgte. Die Kätzchen fühlten sich sehr wohl bei mir. Ich spielte mit ihnen und beobachtete ihr lustiges Treiben. Aber es wurden immer mehr. Ich bekam Ärger mit den Eltern und musste mich schließlich verpflichten, die ganze Einrichtung wieder abzubauen. Meine Sympathie für diese verspielten und freiheitsliebenden Tiere blieb bestehen. Ich bewunderte immer wieder ihre unwahrscheinliche Körperbeherrschung und Gewandtheit, mochte ihr schönes kuscheliges Fell, ihre anschmiegsame, zutrauliche Art und die munteren grünen Augen.

      Jahrzehnte vergingen. Wohnheime, Untermiet- und Neubauwohnungen ließen die Erfüllung eines solchen Wunsches nicht zu. Doch nun hat sich die Situation in geradezu unerwarteter Weise geändert. Mit einem Eigenheim und einer tierliebenden Partnerin an meiner Seite sind jetzt alle Voraussetzungen gegeben. Das mit dem Haus erworbene Grundstück mit einer Fläche von fast zweitausend Quadratmetern ist das ideale Zuhause für solch einen kleinen Freund. Die nahezu quadratisch verlaufende Grundstücksgrenze schließt eine große Wiese, ausgewachsene Laub- und Nadelbäume, dichtes Buschwerk und viele Zierpflanzen ein.

      An keiner Stelle hat das Gelände Berührung mit einer verkehrsreichen Straße. Es liegt inmitten einer Gartenkolonie. Ein schmaler Weg, der von einem LKW nur mit Mühe passierbar ist, verbindet die Ortsstraße mit dem kleinen Eigenheim.

      „Hast du schon mal überlegt, wo wir unseren Kleinen unterbringen wollen?“, fragt Helga. „Mephisto hat sein Quartier im Keller neben der Zentralheizung. Die Tür am Hintereingang ist mit einer kleinen Öffnung versehen, durch die er jederzeit raus und rein kann.“ Aber unser Haus in Frankenberg hat keinen Hintereingang und auch sonst keinen geeigneten Zugang für eine Katze.

      „Was ist, wenn wir mal nicht zu Hause sind? In unsere Haustür vorn können wir ja nun wirklich kein Loch hineinsägen!“

      Wir finden schnell eine andere Lösung: An die Doppelgarage in unserem Grundstück hatte Frau Petzold noch eine Unterbringung für ihren Schäferhund anbauen lassen. Wir benutzen den kleinen Raum vorläufig zum Abstellen der Gartengeräte. Da könnten wir unserem Moritz eine Schlafstelle einrichten. „Natürlich darf er auch mal zu uns in die Wohnung kommen!“, beruhigt mich Helga. „Aber in dem kleinen Anbau ist dann sozusagen sein Hauptquartier.“

      Wir sind am Ende des ausgedehnten Stoppelfeldes angekommen. Die Sicht zum Meer ist uns versperrt. Ein Trampelpfad führt auf die Anhöhe hinauf und dann zwischen immer dichter werdenden Sanddornsträuchern und Kartoffelrosen hindurch. An den engsten Stellen streifen die stachligen Sträucher unsere Kleidung. „Weißt du, dass wir solche Sträucher im Grundstück haben?“, fragt Helga. Ich kann mich nicht erinnern. „Doch, die Bepflanzung auf der kleinen Böschung am Swimmingpool besteht zum Teil aus Sanddornsträuchern und Kartoffelrosen. Du hast es bestimmt übersehen, weil alles mit Gras und Brennnesseln zugewachsen ist.“ „Kann schon sein!“ Ich erinnere mich nur an den alles überragenden Rhododendron, wenige Schritte vor den Stufen, über die man die Plattform am linken Rand des Schwimmbeckens erreicht.

      Der für diese Küstenregion so typische Pflanzenwuchs lichtet sich ein wenig. Wir vernehmen leise das Anschlagen der