Georgian J. Peters

Kettenwerk


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      „Klar, das hätte ich dir auch sagen können“, stieß er Matjes auffordernd in die Seite. „Was soll das? … Hee!“ Er kam ihm vor wie der überforderte Kandidat in einer billigen Varieté-Nummer während der spannenden Hypnosephase.

      „Er ist aber nicht mehr verschüttet … und …und ich bin ’rein und war plötzlich drüben im Kinderheim … auf der anderen Seite des Bahngeländes, weißt du?“

      „Wo?“, stieß Kessie ungläubig aus, „Wo warst du?“

      „Na, der eine Gang führt da hin, verdammt!“, entgegnete Matjes mit einem flüchtigen Blick zu Kessie.

      Wie messerscharfe Piranhazähne nagten Kessies Augen skeptisch an Matjes’ Profil, erstarrten nur kurz, als sich ihre Blicke trafen, bis Matjes stockend weiterredete: „Die Unfälle im Werk nehmen wieder zu. Die Zeitung schreibt von mysteriösen Unfällen …“, starrte er das Fenster an, „und die Bullen kommen nich’ drauf“, brachte er stöhnend den Satz zu Ende.

      „Aber wer hat dich geschlagen, Mann?“, packte ihn Kessie an den Armen, als in diesem Augenblick das Fenster erneut gleißend rot flutete. In Sekundenschnelle verwandelte sich das Gelände in eine riesige Dunkelkammer, in der soeben das Arbeitslicht eingeschaltet wurde. Abrupt fuhr Kessie herum und duckte sich.

      Ich bin ein realistischer Mensch. Ich suche immer nach einer vernünftigen Erklärung und wenn ich keinen guten Grund finde, dann erkläre ich so etwas lieber schnell zu einem Geheimnis – damit das wenigstens noch einen Sinn bekommt. Aber mittlerweile habe ich von solchen Geheimnissen einen ganzen Haufen … Nur …Matjes’ blaues Auge ist ’ne verdammte Tatsache!

      „Und das Mädchen da unten …“, redete Matjes stockend weiter, „sie … sie hat mir da unten geholfen …“

      „Was sagst du da?“, spuckte Kessie förmlich aus, während er auf das Fenster und die Gestalt starrte. „Fantasierst du jetzt?“ Diesmal flutete das gleißende Licht länger und wesentlich intensiver als die Male zuvor. Kessie konnte die Gestalt jetzt noch deutlicher sehen.

      Ein Kind … Es ist ja noch ein Kind … ’n Mädchen … Steht nur da und starrt rechts an die Wand … So ’n Scheiß!

      „Was für ein Mädchen, Mann!“, hörte er sich fragen.

      „Weiß ich doch nich’ … Hier bin ich jedenfalls wieder aufgewacht.“

      In diesem Augenblick kam Kessie Georgies Begegnung mit dem kleinen Mädchen vor so vielen Jahren auf dem Flur da drinnen in den Sinn. Es hatte blonde und lange, glatte Haare, wirkte verstört und über ihre rosigen Pausbäckchen rollten dicke Tränen. Wie ein verängstigtes Rehkitz, das verzweifelt nach der Mutter sucht, warf sie den Kopf hin und her, dann erst erblickte sie Georgie wie durch eine sich aufklarende Nebelwand.

      Vollkommen geschockt stand Georgie damals da und betrachtete das Mädchen. Er kannte sie nicht. Sie war dicklich und hatte panische Angst, das jedenfalls verrieten ihre weit aufgerissenen Augen. Ihre Angst übertrug sich auf Georgie, da auch er begann, hektisch den Kopf hin und her zu drehen, in der Hoffnung, eine befriedigende Erklärung für diese Begegnung zu finden, irgendwo in diesem halbdunklen Flur. Unmerklich glitt Georgie hinüber in ihre Welt und im nächsten Moment loderte der sonst so düstere Flur in einem gleißend roten Licht. Um ihn herum verwandelte sich alles in auffallende Reinlichkeit. Die Wände und Türen waren frisch gestrichen, die Dielen frisch gewachst und spiegelglatt.

      Nicht sie war in ein Zeitloch gesprungen, sondern er war es, der seine Welt verließ, um die ersten Mosaiksteinchen in das furchtbare Puzzle zu setzen. Damals jedoch vergrub Georgie diese Steinchen und auch die anderen ganz tief in der finstersten Ecke seiner Seele, da er überhaupt nichts mit all dem anzufangen wusste.

      Unversehens sprang ihm das blonde Mädchen entgegen und schluchzte: „Wo ist meine Mama? Weißt du, wo meine Mama ist?“

      „Nein“, schoss Georgie irritiert zurück und er schluckte trocken, „nein, ich weiß nicht … Aber sie kommt bestimmt gleich … Es ist doch schon spät.“

      Kurzzeitig schien die Panik der Kleinen zu verebben. Sie legte den Kopf schräg, musterte Georgie von oben bis unten und stieß einen großen Seufzer aus. Schnell überlegte er, suchte nach Worten, fand jedoch nur Fragen, die trocken auf seinen Lippen brannten: „Bist du denn neu hier? Ich kenn’ dich gar nicht.“

      Sie schaute wieder zu ihm auf und sagte: „Ich bin schon ganz lange hier, aber … du … du bist neu hier! Wie heißt du?“

      „Georgie … und du?“

      „Ann-Marie“, verzweifelt schaute sie um sich, weil nackte Panik sie erneut einholte.

      Irgendwie hatte Georgie den Eindruck, sie würde durch ihn hindurchsehen.

      „Meine Mama holt mich immer ab … aber seit vier Tagen kommt sie nicht mehr und ich muss immer hier bleiben. Auch mein Papa kommt nicht.“ Sie begann bitterlich zu weinen, drehte dabei den Kopf wie wild hin und her, dass die langen Haare hinterher flogen.

      Georgie wollte sie in den Arm nehmen, doch er traute sich nicht: „Was suchst du denn?“, fragte er mitfühlend.

      „Tante Irmtraut“, erwiderte sie und dieser Name explodierte in seinen Ohren wie ein großer Chinaböller.

      „Sie ist böse! Ich muss immer hier bleiben und … sie sperrt uns ein … Da!“, sie zeigte auf die Tür, die zum Schlafsaal führte. Die Tür, die immer verschlossen ist.

      Die Waisenkammer!

      „Ich will nach Hause! Wann kommt meine Mama!“

      „Tante Irmtraut?“, wiederholte er den Namen. In seiner Stimme schwang massiver Unglaube mit.

      „Ja, sie wohnt auch hier. Sie sperrt mich immer zu den anderen … Ich will da nicht mehr hin.“

      „Die anderen?“, fragte Georgie und blinzelte, da das gleißende Licht noch intensiver zu leuchten schien. Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob er in Wirklichkeit nicht doch im Bett lag, im großen Schlafsaal mit den anderen Kindern und Mittagsschlaf hielt.

      „Nun wein’ doch nicht!“, versuchte er, sie zu trösten, „Wie alt bist du denn?“

      „Sieben. Bald bin ich acht.“

      Verlegen grub Georgie seine Hände in die Hosentaschen und ließ einige Sekunden an sich vorbeiziehen, bis er sich die nächsten Worte zurechtgelegt hatte: „Wohnst du denn weit von hier?“

      „Ja! Ich weiß, dass wir 15 Minuten gehen müssen“, antwortete sie etwas gefasster, da Georgies Fragen sie irgendwie ablenkten.

      „Das ist doch gar nicht weit weg“, stellte Georgie ortskundig fest.

      Ihr bislang gehetzter Blick ruhte jetzt auf seinen Augen und wieder legte sie den Kopf schräg. Zögerlich sagte sie: „Meine Mama und mein Papa arbeiten da drüben in der großen Fabrik.“

      „Oh, meine Eltern auch“, entgegnete Georgie überrascht.

      „Dann hast du das laute Heulen auch gehört?“

      „Was für ’n Heulen?“

      „Immer hoch und tief … Es heult“, sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, „und dann kam der Donner vorhin und das große Gewitter ohne Regen … Seitdem bin ich immer hier!“

      Mit diesen Worten rollten auch die dicken Tränen wieder.

      Sie vergrub das Gesicht in ihre kleinen Händchen, sodass ihr alle Haare nach vorne fielen.

      Bevor Georgie nach einer rettenden Lösung greifen konnte, die beide aus dieser Situation holten, schreckte sie zurück und rannte rückwärts, einige Meter von ihm weg, dorthin, wo sie ihm erschienen war. Sie sah in seine Richtung, aber an ihm vorbei, den Flur entlang.

      Und wieder geschah etwas Erschreckendes, das Georgie erschaudern ließ. Wie in Zeitlupe setzte sie sich in Bewegung, doch irgendwie ohne, dass sich ihre Beine bewegten.

      Sie