hob er die Tasse, berührte sie mit der Unterlippe. Er atmete nicht durch die Nase – der Duft interessierte nicht. Auch kein Tropfen sollte vorerst seinen Mund treffen, dafür neigte er das Geschirr zu wenig. Die Lunge zog lediglich in tiefen Zügen den aufsteigenden Dampf in den Rachen und versuchte ihn zu schmecken. Etwas bitter, empfand er, doch wahrscheinlich war das nur Einbildung.
In diesem Moment erreichte Henning schlagartig das, was die meisten seiner Verwandten seit Tagen Schwarz tragen ließ. Es hatte in seinem speziellen Fall einen fahlen Beigeschmack und nichts mit Trauer zu tun, aber von einer Sekunde auf die nächste wurde deutlich, dass es etwas zu ersetzen galt, auf dem seine gesamte Vergangenheit aufbaute.
Henning Geiger hatte keinen Respekt vor seinem Vater. Schließlich distanzierte er sich zu Lebzeiten so weit von ihm, wie es nur möglich war. Dennoch fehlte er.
Als ihm das klar wurde, lösten sich seine Finger vom Henkel der Tasse. Unfreiwillig.
Das Porzellan traf hart auf die Tischplatte. Seltsam, dass es nicht zersprang.
Henning ließ kein Geld auf dem Tisch liegen, von dem verschütteter Kaffee lief. Er hetzte nach draußen, rannte. Für Außenstehende, die nur einen kleinen Teil seiner Vergangenheit kannten, mochte es so aussehen, als wollte er einem Stück Zeit nacheilen, in welchem sein Vater noch lebte.
Doch darum ging es nicht.
Es war etwas mehr als eine Woche her, dass ihm der Arzt in der Notaufnahme sagte, dass der Vater es nicht geschafft hatte. Diese Nachricht verlangte ihm keine Träne ab. Sie war die logische Konsequenz des Zustandes, in dem man ihn aufgefunden hatte.
Ebenso logisch wie unveränderbar folgten die Vorbereitungen für die Beerdigung. Alles in sich schlüssig, alles Dinge, die zu tun waren und wenig Raum für die Bestürzung ließen, die von Anfang an beabsichtigte, ihn heimzusuchen. Doch es kam erst jetzt, wo das Wichtigste in die Wege geleitet schien, einige Stunden, nachdem er am Vormittag einen letzten Anruf an seine Mutter richtete.
Ob sie noch Hilfe brauchte, hatte er gefragt.
Sie schüttelte den Kopf. An seinem Ende der Leitung wurde das Schütteln zu einem Schweigen.
»Wir sehen uns dann nachher. Zieh den dunkelgrauen Anzug an.«
Henning nickte. Auch daraus machte das Telefon nichts als Stille.
Nach kurzem Zetern sprang der Motor des Volvos an. Er ließ sich manchmal etwas bitten, versah seinen Dienst aber recht ordentlich. Beim letzten Mal, als er Henning die Treue brach, lagen die Temperaturen zwanzig Grad unter null, im Winter vor drei Jahren. Kein Vergehen, das der Maschine aus den Neunzigern anzulasten wäre – es lag seinerzeit an der Batterie.
Der Auspuff dröhnte, als er den Hinterhofparkplatz des Cafés verließ und auf die schmale Durchfahrt zusteuerte. Bevor er sie passieren konnte, rauschte ihm ein Wagen von der Straße entgegen und der Fahrer stieg hupend vor ihm in die Eisen.
Früher ließ man Leute erst hinaus, ehe man irgendwo hinein wollte. Das müsste grundsätzlich auch für Hinterhöfe gelten, dachte Henning.
Wieder ein Hupen. Diesmal nerviger. Er legte den Rückwärtsgang ein und den rechten Arm auf die Beifahrerkopfstütze, um sich nach hinten zu drehen. Seit er acht oder zehn Kilo zugenommen hatte, raubte ihm Schnürsenkel zubinden und durch die Heckscheibe schauen etwas die Luft.
Von der Hofseite rauschte ein Mercedes heran. Er ignorierte Hennings Bemühungen, zurückzusetzen und hielt hinter dessen Stoßstange. Der Fahrer kannte wohl auch den Knigge-Grundsatz: Erst raus, dann rein.
»Großartig!« Henning blendete ein paar Mal auf. Keine Reaktion beim Wagen in der Durchfahrt.
Wie bescheuert muss man denn sein? Gleich gehe ich rüber!
Wieder die Hupe. Sein Blutdruck erhöhte sich erheblich. Bremse, Gang raus, Handbremse. Er warf die Tür auf und ging wütend zur Einfahrt. Er klopfte gegen die Scheibe der Fahrertür. Eine ältere aufgetakelte Frau dachte nicht einmal daran, sie herunterzulassen.
Das gibt’s doch nicht.
Er hämmerte energischer auf das Glas ein.
Nichts.
»Kriegen Sie nicht mal das Fenster runtergekurbelt?«
Nach einer Pause, um Henning noch etwas mehr zur Weißglut zu bringen, drückte sie den Fensterheber.
»Und Sie sind sich zu fein, rückwärts zu fahren?«, ging sie ihn in einer Heftigkeit an, dass er auf die Schnelle keine passende Antwort fand.
Hat die ‘nen Knall?, durchfuhr es Henning.
Aber die Frau war noch nicht fertig.
»Wollen Sie allen Ernstes von mir verlangen, dass ich rückwärts auf die Straße zurücksetze? Was, wenn mir dann einer hinten drauf kachelt? Es kotzt mich an, dass in dieser Stadt scheinbar nur Idioten wohnen!«, wetterte sie. An ihrem Hals pulsierten Adern, was sie noch unansehnlicher machte.
Sie fuhr die Scheibe wieder nach oben.
Und wie soll ich nach hinten?, dachte Henning. Da steht jemand, inzwischen sind dort sogar zwei weitere Wagen. Wir machen doch jetzt nicht alle Platz, damit die gnädige Frau auf den Hof kommt? Warum fährt sie mich eigentlich so an? Warum heute?
Er spürte, dass es ihm nicht mehr gelang, die Fäuste ruhig zu halten. Das Herz schlug wütend bis zum Hals. Er hatte die nötige Betriebstemperatur, um auszurasten, wie so oft, wenn man ihn aufstachelte. Entweder rutschte ihm dann die Hand aus oder er drosch etwas kurz und klein.
Jedoch nicht in diesem Fall. Henning stampfte zurück zu seinem Wagen. Er beugte sich über den Fahrersitz und zog den Schlüssel ab. Dann steckte er ihn in die Tasche seines Parkas, ebenso wie die geballten Fäuste, um sie im Zaum zu halten und mit ihnen keinen Unsinn zu machen, während er sich am Auto der Frau vorbei auf die Straße zwängte.
Zurück blieb ein herrenloser Volvo mit offener Tür.
4
Hey, Martin.«
Der Angesprochene hob seinen Kopf über den Monitor, um unter der Fülle an Hintergrundgeräuschen die Stimme auszumachen, die etwas von ihm wollte. Das Großraumbüro, dessen Decke alle paar Meter gusseiserne Pfeiler stützten, hätte aus rein akustischen Beweggründen als Übergangslösung gar nicht erst in Betracht gezogen werden dürfen. Da halfen auch die stoffbezogenen Stellwände zwischen den Schreibtischen nichts.
Dennoch war die Wahl auf den fünften Stock eines leer stehenden Fabrikgebäudes gefallen. Das halbe Jahr würde es gehen, bis die Sanierung des Hauptsitzes der Zeitung erledigt wäre, hatte man sich in der Geschäftsführung gedacht. Wohl wissend, dass das Geräuschproblem nur das Fußvolk betraf. Für die gehobenen Positionen hatte man in der sechsten Etage separate Büros eingerichtet.
Martins Augen suchten den Raum nach demjenigen ab, der gerufen hatte.
»Jakob?«
»Hier. Hier hinten.« Am gegenüberliegenden Ende streckte sein leitender Redakteur die Hand nach oben, um sich im Trubel bemerkbar zu machen. Er hatte bereits den Durchgang zum Treppenhaus genommen und hielt die Tür offen, im Begriff zu einem Termin zu verschwinden.
»Bist du heute noch frei?«, rief Jakob.
Martins Kopfbewegung gab Antwort. Er hatte zwar eine Frau und ein Neugeborenes zu Hause, die seine Nachmittage beanspruchten, doch sein Ehrgeiz setzte sich regelmäßig darüber hinweg, was sein Nicken bezeugte. Wer es bei einer Zeitung zu etwas bringen wollte, musste Single sein oder Opfer bringen.
»Komm zu mir, wenn ich zurück bin. Ich hab was. Gegen vier?«
Auf Martins Uhr war es viertel vor drei. Auf den übrigen Uhren im Büro auch. Zeit genug, um den Bericht über eine Evakuierung im Rahmen der Bombenentschärfung am Bahnhof fertigzustellen. Wenig spektakulär, Weltkriegsbomben gehen so gut wie nie bei Entschärfungen hoch – nicht einmal in Oranienburg, der Einflugschneise vieler britischer Bomber, die in Berlin ihre