Ron Müller

Das Zwillingsparadoxon


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Evakuierung betraf vier Mietshäuser und eine Straßenbahnhaltestelle. Dennoch musste die Sache ungeachtet der Trivialität vom Tisch, bevor er den nächsten Auftrag annahm. Die beiden Wirtschaftsbeiträge müsste er abends hinbekommen, falls seine Tochter rechtzeitig in den Schlaf finden würde, nicht ganz einfach in einem hellhörigen Altbau mit Holzbalkendecken und furchtbaren Nachbarn. Den Text für Donnerstag dann morgen in aller Frühe, den Kleinkram und die E-Mails danach, die Außentermine im Anschluss. Das sollte klappen – es musste, da das Einkommen eines freien Mitarbeiters von der Zahl der veröffentlichten Zeilen abhing.

      Hast du schon einen Blick in die heutige Ausgabe geworfen?«, fragte Jakob.

      »Hast du mal einen Blick auf meinen Schreibtisch geworfen?», hielt Martin lächelnd dagegen.

      Als Neuling bei der Zeitung hatte ihn das überhebliche Gehabe des Vorgesetzten etwas verunsichert – als ob Jakob der Einzige wäre, der arbeitete, während der Rest nur Däumchen drehte oder sich zu blöd anstellte. Inzwischen wusste er jedoch, wie er ihn zu nehmen hatte – gelassen und mit einer Portion Humor.

      »Wenn ich das Papier auf dem Tisch abgearbeitet habe und ich wieder sehe, welche Farbe sein Holz hat, dann nehme ich mir Zeit dafür.«

      »Sagt dir Oswald Geiger etwas?«

      Martin verneinte und versuchte mit den Zähnen einen angerissenen Fingernagel so zu bearbeiten, dass er damit nicht überall hängen blieb.

      »Doktor Oswald Geiger?«

      Der Titel half auch nicht weiter. Er hatte eine Kante des Nagels zu fassen bekommen und zog ihn langsam ab.

      Mist! Der Riss ging ins Nagelbett. Jetzt werde ich es wieder tagelang bei jedem Buchstaben merken, den ich mit diesem Finger tippe. Super, Martin!, stellte er fest und sah, wie es leicht zu bluten anfing.

      »Ich konnte mit Geiger ebenfalls nichts anfangen. Er muss letzte Woche verstorben sein.« Der leitende Redakteur war noch immer bei seinem Thema.

      »Jetzt mal ganz pragmatisch«, sagte Martin etwas enttäuscht, da er auf einen spannenden Auftrag gehofft hatte. »Was interessiert uns ein Typ, den keiner kennt und von dem nicht mal jemand mitbekommt, dass er seit Tagen tot ist? Das lohnt doch den Aufwand nicht.«

      »Zigarette?«

      Irrtum, es war wichtig!

      Jakob bot in seinem Büro grundsätzlich nur etwas zu rauchen an, sobald sich Gespräche in eine falsche Richtung entwickelten und er Zeit brauchte, sie neu auszurichten.

      Martin nahm eine. F6 Menthol, es gibt Schlechteres. Er hatte nur gelegentlich mit Zigaretten zu tun. In der Regel, wenn er betrunken war.

      »Ich bin gespannt. Wie lange arbeite ich schon bei euch? Vier Jahre? In den vier Jahren komme ich vielleicht auf eine halbe Schachtel, die ich in deinem Büro geraucht habe. Und ich kann mich an keine erinnern, die es grundlos mal eben so gab.«

      Jakob grinste.

      Martin nicht.

      Es brachte nichts, sich mit seinem Vorgesetzten zu verbrüdern. Wenn kurze Zeit später wieder in der Redaktion etwas schief lief, wäre Jakob ohnehin alles egal und er motzte den voll, der ihm als Erstes über den Weg lief. Freund hin oder her. Dementsprechend sinnvoll war es, konsequent ein wenig Abstand zu wahren und sich damit die gute Laune dauerhaft zu erhalten.

      Martin zog eine Augenbraue nach oben. »Erzähl schon!«

      »Geiger hatte zu Lebzeiten einen Deal mit der Geschäftsführung. Er hatte eine ganze Menge springen lassen, fünfstellig, munkelt man, und dafür seitenweise Anzeigefläche gekauft.«

      »Klingt gut.«

      »Die Anzeigen werden erst nach seinem Tod geschaltet.«

      »Okay.« Martin wurde hellhörig.

      »Der Inhalt jeder Anzeige kommt am Vortag von einer Stiftung auf dem Postweg. Größe steht fest, Seite steht fest.«

      »Wie?«

      »Es sind Briefe – eigentlich nicht mehr als Kurzmitteilungen. Von Geiger, handgeschrieben.«

      »Hast du einen da?«

      Jakob kramte in einem Schreibtischfach und gab Martin einen Zettel, augenscheinlich aus einem Abreißblock.

      Es war kein Unfall – dafür haben mich zu viele in den Tod begleitet.

      Dr. Oswald Geiger

      »Das ist der Erste?« Martin überflog ihn. Setzte kurz ab, las ihn noch einmal und schwieg.

      »Sie werden eingescannt und als Bild abgedruckt. Halbseitig, Seite eins, unten.«

      »Halbseitig?«

      »So ist es – erstmals eine großflächige Werbung auf der Titelseite, die gleichzeitig ein Aufmacher ist. Das hatte die Anzeigenabteilung auch noch nicht.«

      »Und wie erklären wir, was wir da unters Volk geben?«

      »Keine Ahnung«, antwortete Jakob. »Am liebsten würde ich die Dinger hinten bei den Nachlässen drucken und allenfalls zwei Spalten fünfzig dafür aufwenden. Der Geiger kann ja nicht mehr klagen, wenn er statt des Aufmachers nur eine Doppelspalte mit fünfzig Millimetern abbekommt.«

      »Na, dann mach doch«, meinte Martin.

      »In dem Fall erstreitet eine Stiftung für ihn die Sache. Alles im Vorfeld geregelt.«

      »Dann war dieser Zettel heute Morgen unsere Topschlagzeile?«

      Jakobs Stirn zog sich Falten. Er starrte aus dem Fenster.

      Keinem der beiden Männer war zu diesem Zeitpunkt klar, dass es in der Stadt bereits ein Dutzend Menschen gab, die fieberhaft an etwas arbeiteten, das größer werden würde, als Doktor Geigers optimistischste Prognose vorausgesagt hätte. Es sollte mit der Zeit zu tun haben, soviel war sicher, und wohl auch mit dem Tod.

      Zweiter Teil

      Man hat dir nie gesagt, wie die Zeit aussieht. Du hast sie auch niemals erblickt, nur das, was sie mit allem und jedem macht.

      5

      Allmählich legte sich Hennings Aufregung. Der Tag war denkbar ungeeignet, um sich über eine überhebliche Alte aufzuregen, die eine Einfahrt blockierte.

      Ein Thema bekommt nur so viel Raum, wie man ihm gibt. Seine frühere Therapeutin hatte zu diesem Satz geraten, wenn ihn etwas zu überfordern drohte. Man müsse das nur oft genug zu sich sagen, damit es wirkt, und natürlich daran glauben. Ihm war nach einer Schimpftirade zumute, was für Geldschneider Psychologen seien, und wie fernab aller Realität ihre Ratschläge lagen. Doch was brachte es, sich in einer Ladenstraße über einen Personenkreis aufzuregen, der nicht anwesend war.

      Das Smartphone gab einen Ton von sich, eine E-Mail. Es dauerte, bis sich das mitgesandte Foto aufbaute. Jemand hielt den Stadtanzeiger in der Hand. Henning vergrößerte den Ausschnitt. Die Handschrift seines Vaters. Leserlicher als sonst, mit weniger Schnörkeln, aber der kurze Satz war von ihm. Kein Zweifel. Wer benutze schon braune Tinte und gierte nach jedem kleinen »t«, um dessen Querstrich über das gesamte Wort zu ziehen.

      Dr. Oswald Geiger, mit der Unterschrift wurde auch Außenstehenden der Urheber bekannt.

      »Nicht einmal krepieren kann er, ohne den Leuten seinen Doktor unter die Nase zu reiben.«

      Das Telefon klingelte. Es war der Absender der E-Mail. Henning ignorierte ihn.

      Noch ein knapper Kilometer bis zum Südfriedhof und noch mehr als eine Stunde Zeit.

      Die Bänke der Kapelle hatten nicht ausgereicht, um die aufzunehmen, die sich verabschieden wollten. Martin stand seit einer halben Stunde an die Wand gelehnt und wartete darauf, dass etwas passierte, über das es zu schreiben lohnte.

      Er sah den Kollegen eines anderen Blattes einige Reihen vor sich und ließ ein stummes Hallo über die