Ron Müller

Das Zwillingsparadoxon


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wenn sie die Möglichkeit bekamen, unangenehme Situationen etwas hinauszuzögern.

      Als er den Flur der Eltern hinunter ins Wohnzimmer ging, kam ihm Steve entgegen.

      »Gut, dass du gekommen bist.«

      Was soll das Gesülze?, dachte Henning und regte sich über die kriechende Art des kleinen Bruders auf. Klein war dieser mit einsachtundsechzig tatsächlich. In der Regel glich er das durch Schuhe mit höheren Sohlen aus, damit er die einssiebzig überschritt – für Männer geringerer Große ein Meilenstein.

      »Was machen die Geschäfte?«

      »Ach, das ist doch jetzt unwichtig«, antwortete Steve.

      Genau. Henning sparte sich weitere Bemerkungen. Die drohende Privatinsolvenz des Bruders war bekannt, lediglich Steve glaubte, dass das Thema noch als Verschlusssache galt. Aber eigentlich hatte er nichts gegen ihn. Mit seinem schlecht laufenden Internethandel und dem licht gewordenen Haar war der Zweitgeborene gut für sein Ego, in mehrfacher Hinsicht.

      »Inge«, begrüßte Henning seine Mutter.

      »Und …« Sie lockerte die Umarmung. »Wie geht’s dir?«

      Was ist denn heute mit den Leuten los? Henning mochte die Frage nicht. Er fand sie generell unpassend, weil sie fast immer an den falschen Orten gestellt wurde. Meist da, wo kein Raum für eine ehrliche Antwort war. Und heute? Heute war sie geradezu idiotisch. Aber auch das schluckte er herunter.

      Den Rest begrüßte er mit Handschlag.

      Man rief zu Kaffee und Kuchen. Ohne sich zu sehr aus dem Fenster zu lehnen, hätte jeder der Anwesenden sofort sagen können, was es geben würde. Von der Oma einen Blechkuchen mit Kirschen in der Kirschzeit, mit Äpfeln zur Apfelzeit … man brauchte keine weiteren Beispiele, da das System der Großmutter leicht zu durchschauen war.

      »Wie viel Zeit bleibt noch bis zur Testamentseröffnung?«, fragte Steve und angelte sich das erste Stück.

      »Kannst es wohl nicht abwarten. Wirst schon genug abbekommen.«

      »Jungs!« Die Großmutter versuchte, einen Streit im Keim zu ersticken.

      »Steck doch die Knete in dein florierendes Unternehmen.«

      »Henning, es reicht!«

      Inges Worte sorgten dafür, dass er vom Bruder abließ und mit der Gabel die erste Portion sezierte. Er hatte keinen Appetit und vor allem keine Lust auf das Harmoniebestreben, das der Rest der Familie hatte.

      »Ich kann Heucheln nun mal nicht ausstehen«, murmelte er vor sich hin.

      »Was willst du eigentlich?« Wütend sprang Steve auf.

      Henning hielt es ebenso wenig auf dem Stuhl. »Sag doch einfach, dass dir das Erbe gelegen kommt, und quatsch keine Opern.«

      »Anscheinend geht es dir am Arsch vorbei, dass Vater tot ist«, brüllte Steve zurück.

      »Ja, der feine Vater. Möchtest du das mit der Ehrlichkeit mal probieren?« Henning ging um den Tisch. »Sprich mir nach! Es ist mir völlig egal, ob seine Durchlaucht lebt oder nicht, da er sich nicht für uns interessiert hat. Nicht im Ansatz! Und der Vollständigkeit halber sag auch noch das hier: Ich habe für meinen Pflichtteil zwar wenig getan, aber ich nehme ihn dankend an, als Entschädigung, weil der gute Mann zeit seines Lebens nur mit sich beschäftigt war. Und der gute Mann war gar nicht gut, um bei der Wahrheit zu bleiben, eigentlich war er ein Arsch!«

      »Du überheblicher …«

      Im selben Augenblick knallte Inges Handfläche auf Hennings Schläfe. Sie hatte die Wange treffen wollen.

      Das war’s! Nach der Aktion brauche ich mir den Mist hier nicht länger zu geben.

      Er tobte in die Küche, riss den Kühlschrank auf und zog ein Pils heraus.

      »Wisst ihr was?«, brüllte er durch den Flur. »Ihr könnt den ganzen Scheiß behalten. Nehmt meinen Teil und dann heult doch alle noch ordentlich rum, weil der Idiot nicht mehr da ist.«

      Henning verzog sich vor das Haus. Er trank das Bier in einem Zug, warf seine Maschine an und die Flasche krachend gegen die Garage.

      Schwachköpfe!

      Halb fünf.

      Der Raum des Amtsgerichts erschien schmucklos. Einem Bau, der seit der vorletzten Jahrhundertwende von außen etwas Herrschaftliches ausstrahlte, hatte man von innen mit jedem Jahrzehnt mehr von ebendiesem genommen. Erst den Stuck und die Dielung. Später die hohen Decken. Wenigstens die Türen hatte man im Original belassen, jedoch so oft überstrichen, dass sie heruntergekommen wirkten. Der einzige Blickfang enthielt zehn Zeilen und hing in einem schwarzen Rahmen zwischen zwei Fenstern:

      Der Tod ist nicht das Ende.

      Er löst einzig die Bande, die dich mit der Zeit verbunden hat … die dich mit ihr vorantreiben ließ.

      Du fällst nicht ins Bodenlose. Keine Angst. Du bleibst nur stehen und verhakst dich in einer Minute, die du nicht mehr verlassen wirst.

      Anfangs fürchtest du, immer schneller abzutreiben. Aber das kommt dir nur so vor. Denn mit dem Tod bist du lediglich losgelöst von der Gegenwart, zur Ruhe gekommen und nur die übrige Welt strebt weiter.

      Ingeborg saß neben Steve. Sie wartete und vermied es, den Text ein zweites Mal zu lesen.

      Der Gerichtsmitarbeiter, der sich ihnen vor zehn Minuten mit Nowak vorgestellt und die Formalitäten geklärt hatte, kam nun in Begleitung aus einem Nebenzimmer.

      »Bevor wir zur Verlesung kommen, stelle ich Ihnen Herrn Steiner vor. Er wird der Testamentseröffnung beiwohnen.«

      Es war den beiden Hinterbliebenen egal, ob der hochgewachsene, kräftige Mann im braunen Anzug zuhörte. Ihretwegen hätte das halbe Amt zuhören können, solange alle, was die Erbsumme angelangte, den Mund hielten und nicht aus der Nachbarschaft stammten.

      Nowak räusperte sich und begann.

      Letzter Wille und Testament

      Ich, Dr. Oswald Geiger, geboren am 25.10.1950, setze für das vor meiner Ehe entstandene Vermögen die Aevum-Stiftung und für den in der Ehe entstandenen Besitz meinen Sohn, Henning Geiger, als Erben ein. Meine Ehefrau, Ingeborg Geiger, enterbe ich hiermit.

      Steve Geiger soll nach dem Versterben seines Bruders der Schlusserbe sein. Sollte er nach meinem Ableben den Pflichtteil verlangen, so soll er auch zum Zeitpunkt des Todes von Henning lediglich den Pflichtteil erhalten. In diesem Fall übertrage ich den Rest des Besitzes an die Aevum-Stiftung.

      Im Rahmen meines Letzten Willens wird das Gericht gebeten, die Anwesenden der Testamentsverlesung über die Hintergründe der genannten Stiftung in Kenntnis zu setzen.

      9

      Als Oswald Geiger zu Lebzeiten darüber nachdachte, nach seinem Tod ganz sicher zu gehen und sich vorsichtshalber vor der Beerdigung eine Giftspritze setzen zu lassen, graute ihm vor dem Gedanken, plötzlich in einem Sarg unter der Erde aufzuwachen. Er hätte sich gleichwohl davor ekeln können, von Würmern zerfressen zu werden, aber womöglich ahnte er, dass sich diese lediglich einen Meter über ihm aufhielten, nicht tiefer als drei Handbreit unter der Grasnarbe, die an seiner Parzelle mit dem überdimensionierten Grabstein endete. Die Sache mit den Würmern wäre ihm vermutlich ohnehin egal gewesen, da seine Furcht nicht dem Tod galt, sondern einem Unglück, bei dem alle von selbigem bei seiner Person ausgingen, ihm im Sarg aber gerade ebendieser fehlte.

      Doch dieses Unglück widerfuhr ihm nicht, denn Doktor Geiger befand sich zweifelsohne jenseits der hinteren Schwelle des Lebens. Im rechten Unterbauch hatte am elften Tag nach seinem Auffinden Fäulnis eingesetzt. Eine Mischung aus Schwefelwasserstoff, Methan und Ammoniak füllten nicht nur Teile des Darms – sie dehnten bereits die Haut des Bauches und färbten sie gelbgrün.

      Dass zu diesem Zeitpunkt achthundert Meter entfernt in einer Postfiliale ein hellbrauner Umschlag aufgegeben