dreht nur wenige Takes, das entlastet die Schauspieler, führt zur Planbarkeit der Dreharbeiten. Seine Aufnahmen wirken dadurch aber auch viel frischer, behalten ein dokumentarisches Surplus, die Schauspieler werden nicht ›verbraucht‹.
Man erkennt einen Film von Christian Petzold auf den ersten Blick an seiner Sachlichkeit. Es gibt keine der von den Streaming-Serien gewohnten suggestiven kinematografischen Effekte, wie etwa spektakuläre Kamerafahrten, keine bombastischen Sounds, keine überpointierte Lichtsetzung und auch nur eine sehr begrenzte und oftmals semiotisch gesetzte Spannungsdramaturgie. Alles ist sehr zurückgenommen, am Alltag entlang, meistens chronologisch erzählt (mit experimentellen Flashbacks als Ausnahmen), und dadurch werden die Zuschauenden ernst genommen. Karl Prümm bringt das sehr pointiert auf die Formel, dass Petzold von Innen schaue und von Außen blicke.10 Dabei weisen seine Arbeiten, nicht nur durch das Team, sondern auch inhaltlich und erzählerisch, einen Ensemble-Charakter auf. Wie bei Ozu schlüpfen die Charaktere von Film zu Film, wiederholen und variieren sich Motive, so dass man von einem Petzold-Film sprechen könnte, der nur viele Titel hat, ein Lebenswerk. Folgen wir zunächst den Motiven Petzolds und kommen dann auf narratologische Eigenarten und Besonderheiten zu sprechen.
Motive und Narrative
Liebe in Zeiten der Umbrüche
Das leitende Motiv, man möchte eher sagen Narrativ, in allen Filmen Petzolds ist das der Liebe und ihrer Gestalten. In CUBA LIBRE (1996) und BEISCHLAFDIEBIN (1998) ist es eine vorgetäuschte, ökonomisch verzerrte oder instrumentalisierte Liebe. Das Terroristenpärchen in DIE INNERE SICHERHEIT (2000) ist konservativ in der Beziehung zueinander, bei allen angedeuteten, vermeintlich revolutionären Ausbruchsversuchen. In TOTER MANN (2001) wird Liebe wiederum simuliert, um Rache zu nehmen am Peiniger, wobei Leyla (Nina Hoss) von diesem Spiel und ihren Leidenschaften infiziert wird, was sie sympathisch macht. Und Blum (Sven Pippig) trinkt das Gift ganz bewusst aus.11 GESPENSTER (2005) und YELLA (2007) handeln von einer Sehnsucht nach Liebe und deren Komplizenhaftigkeit. Auch in Petzolds Folge von DREILEBEN – ETWAS BESSERES ALS DEN TOD (2011) steht die Liebe zwischen Johannes (Jacob Matschenz) und Ana (Luna Mijović) im Vordergrund – und deren Scheitern an den Klassen, ganz ähnlich in JERICHOW (2008). In BARBARA, PHOENIX (2014) und TRANSIT (2018) interferiert die Staatlichkeit mit dem einfachsten Anspruch der Liebe. In den drei POLIZEIRUF-110-Filmen (2015–2018) doppelt sich die gebrochene Zuneigung von Kommissar Meuffels (Matthias Brandt) und Constanze Herrmann (Barbara Auer) mit der triebhaften und destruktiv gewendeten Liebe der Täter. Das mythologische Wesen der UNDINE (2020) durchwirkt den Alltagsraum und macht aus diesem eine mythopoetische Kippfigur.12 Immer bricht Petzold das Spiel der Liebe, indem er Konkurrenzfiguren und (meistens männliche) (Ex-) Partner einflicht, so die Figur des Ben (Hinnerk Schönemann) in YELLA und des Thomas (Benno Fürmann) in JERICHOW. Die innere Loslösung scheint viel schwieriger und mehr Katastrophenpotenzial zu bergen als manch äußerer Konflikt. Es sind kopernikanische Planetensysteme der Liebe mit je eigenen Melodien.
DREILEBEN. Intimität, die sich physiognomisch zeigt: Johannes und Ana sind ineinander verliebt
Filme wie WOLFSBURG (2003) und PHOENIX lassen die Liebe unter Vorzeichen des Nicht-Erkennens sich wie in einer Versuchsanordnung neu erleben. Es ist, als ob die Realität die Prämissen neu mische und sich der Alltag in einem narrativen Spin neu ausrichte. Es mag unrealistisch sein, dass Johnny Lenz (Ronald Zehrfeld) in PHOENIX seine Ex-Frau nicht erkennt, und genauso unrealistisch mag es sein, dass Laura (Nina Hoss) in WOLFSBURG so lange braucht, um den flüchtenden Fahrer zu identifizieren. Aber in diesen Peripetien liegt eine antike Erzählhaltung, eine Orakelhaftigkeit und in ihrer Wiederholung eine eigentümlich beschwörende Dimension, die wir von Sophokles’ Ödipus her kennen und die nun (manchmal spielerisch) auf den Alltag angewandt wird. Durch diese Art von Durchgeistigung führt uns Petzold weg von dem, was passiert, hin zu dem Potenzial der Realität, zu probabilistischen Schachtelungen, Gedankenspielen, die sich manifestieren könnten. Dadurch wird auf eine feinsinnige Weise neu austariert, was für sicher geglaubt wurde. Dass wir zu wissen vermeinen, was einer über den anderen denkt und fühlt, steht plötzlich in Frage. Das Bild lernt bei Petzold so den Konjunktiv. Es entstehen Alltagsreben, Vorahnungen, Indizien, die uns die Physiognomien und Handlungen neu lesen lassen.
Gespensterhaftigkeit
»Gespenster und Halbwesen bevölkern alle Filme von Christian Petzold«13, heißt es bei Prümm, das »Reale gewinnt phantastische, das Phantastische reale Konturen«14. Petzold spricht auch selbst über seine ›Gespensterfilme‹, so etwa im Bonusmaterial der TRANSIT-DVD: »Und dieser Kampf von Menschen, die auf der Kippe sind, die im Begriff sind, Gespenster zu werden und sich dagegen zur Wehr setzen, das ist das, was ich ›Gespensterfilme‹ nenne. Ich will nicht arbeitslos werden, ich will nicht von der Frau oder von dem Mann verlassen werden, ich kämpfe um meine Liebe, ich kämpfe um das Geld, um meinen Status, um meine Identität, weil wenn ich das nicht bekomme, dann bin ich tot. Dann löse ich mich auf. Deshalb hat das Kino immer etwas mit Werden und Kämpfen und Arbeit zu tun und nicht mit Zuständen.«15
Es fiele sehr leicht, C. G. Jungs Konzept der Synchronizität16 bei Petzold zu finden, ebenso die Weise, wie der Realraum spirituell aufgeladen wird, durch einfachste Techniken, Geräusche, unvorhersehbare Handlungen etc. Wir kennen dieses Kippen aus Ingmar Bergmans späten Filmen, in denen ebenso Traum und Wachwelt ununterscheidbar werden. Tetsuya Shibutani hat dieses faszinierende Feld in seinem Beitrag »Die Untote in der Nachkriegslandschaft. Bemerkungen zu Christian Petzolds PHOENIX« in den Blick genommen und in dem vorliegenden Band mit Rainer Werner Fassbinders Filmen in Bezug gesetzt.
Gespensterhaftigkeit bei Petzold meint weniger die Welt der Toten als die mediale Welt der Überwachungskameras und Suchbilder, die in den Realraum driften und diesen nachhaltig verändern. Die Menschen in der Gegenwart werden gespenstisch, wollen aber physisch bleiben. Wo andere, etwa der späte Ozu oder Kiyoshi Kurosawa, die Gespenster vom Jenseitigen her fassen, als Wiedergänger der Toten, wie sie überhaupt in der japanischen Kultur zum Alltag gehören, deutet Petzold diese aus dem Hier-und-Jetzt kommend an. Nina (Julia Hummer) in GESPENSTER wird zu demselben, weil sie das nicht hat, was der Staat als Identität definiert, ein Bild ihrer Herkunft. Oftmals tauchen die Figuren regelrecht aus dem Nichts auf, etwa Thomas in JERICHOW, oder sie scheinen, wie UNDINE, über übersinnliche Fähigkeiten zu verfügen, die von den Bild- und Vorstellungsräumen ausgehend mit der Realität interferieren. Petzold projiziert hier einen Diskurs, der dem Kino, dem ›Geisterbild‹, von Beginn an mitläuft, intradiegetisch. Der Zivildienstleistende Johannes erwacht zu Beginn von DREILEBEN – ETWAS BESSERES ALS DEN TOD vor den Überwachungsmonitoren des Provinzkrankenhauses, wie YELLA, in eine alptraumhafte Realität mit einem »gespenstischen Klanggefüge«17 hinein. Außer durch die schemenhaften Bilder Angst zu erzeugen, scheint die Kontrollstation im Krankenhaus ihre eigentliche Aufgabe gerade zu verfehlen, denn der Sexualstraftäter entflieht ungesehen. Johannes lässt Molesch (Stefan Kurt) aus dem Trauerraum des Krankenhauses entkommen, aus Unachtsamkeit, ohne es zu bemerken (und auch ohne zu bereuen, was er da tat, vielleicht erklärt das das irritierende Ende). An der Schaltstelle der visuellen Kontrolle verfolgt er lieber seine Ex-Freundin Sarah (Vijessna Ferkic) per Video. Petzold löst das hier angedeutete Voyeur-Motiv aber zugleich auf. Weniger sieht als fantasiert Johannes sie im groben Raster der Bildpunkte – wie wir als Zuschauer. Und diese Deutung weiterführend zeigt Kameramann Hans Fromm die nächsten Ansichten des Krankenhauses