wenn die Bilder die Erinnerung zum Klingen bringen. Deren Komposition ist, gerade in WOLFSBURG, überaus sachlich, beinahe dokumentarisch, aber dann bricht der Selbstmordversuch in die Handlung ein und verweist in seiner Poetik am Flussrand in seinen Bildern auf diese Epoche. Das Rauschen der Bäume, in BARBARA oder im Schlussbild von YELLA, verleiht dem Bild synästhetische Qualität, färbt es romantisch, wie wir bereits sahen. Manchmal wird das plakativ, etwa wenn der märchenhafte Pfad im POLIZEIRUF 110: WÖLFE durch einen bedrohlichen Wald gelegt wird, in dem Morde geschehen. Der Soul-Hit Anyone Who Had A Heart (1963) von Dionne Warwick sorgt dafür, dass das Märchenthema subversiv und humorvoll unterlaufen wird, statt in Kitsch abzugleiten (wie es beim Einsatz bedrohlicher Musik der Fall gewesen wäre). Gerade in den TV-Produktionen gönnt sich Petzold diese Leichtigkeit und Unbeschwertheit, wenn etwa unklar ist, ob die Musik zu einer Szene im Polizeirevier intra- oder extradiegetisch erklingt.
Was die Romantik konnte, war, die Ahnung zu inszenieren, Pfade zu legen, Stimmungen zu evozieren. Das macht Petzold mit seinem Team, Kameramann Hans Fromm und der Musik von Stefan Will ganz sachte mit Understatement. Weil das Genre-Wissen schon vorausgesetzt wird und eine reflektierte Rezeption, genügt es, das nur anzudeuten. Der verlorene Schuh in WOLFSBURG erinnert natürlich an ASCHENPUTTEL, wie Petzold selbst anmerkt.
Modelle: Immer wieder kommen Modelle ins Spiel, meistens von Realräumen, so in POLIZEIRUF 110: KREISE oder in UNDINE zu Beginn das Modell Berlins oder die Karte in Lauras Wohnung in WOLFSBURG. Modelle und Karten dienen dazu, sich innerhalb der Welt zu orientieren, diese zu beherrschen, einzugreifen, zu manipulieren. Und gerade an der Fehlerhaftigkeit und dem Spielraum von Repräsentation und Realität ist Petzold interessiert. Ähnlich ist es mit den Plänen, die die Protagonisten haben und die nie geradlinig realisiert werden, man denke an TOTER MANN. Pläne können erahnt und durchkreuzt werden, sie interferieren mit den Gefühlen und Leidenschaften und werden von diesen sabotiert.
Geräusche und Atmosphären. Immersive Sound, Ambience Sound und Musik
Ein guter Teil der subliminalen Atmosphäre vermittelt sich bei Petzold über den Ton und die Musik. Da sind die Geräusche, die von Komponist Stefan Will leicht überpointiert, verstärkt und moduliert werden, so dass sich eine Ahnung ergibt. Es entstehen dadurch geisterhafte Klangkörper, Hintergrund-Klanglandschaften, die dem Optisch-Unbewussten eine akustisch-unbewusste Schicht hinzufügen und aus dieser heraus erzählen. Alan J. Pakulas Komponisten trieben diese Idee weiter als Will, bis in das Hypnotische, Paranoide hinein, so etwa John Williams bei PRESUMED INNOCENT (AUS MANGEL AN BEWEISEN, 1990) und Michael Small in KLUTE (1971) und THE PARALLAX VIEW (ZEUGE EINER VERSCHWÖRUNG, 1974). Multitalent John Carpenter experimentierte in den 1970er und 1980er Jahren mit seinen minimalistischen Kompositionen mit diesem paranoide Stimmung erzeugenden Horror-Sound. Aber bei Pakula wie bei Carpenter entstehen so Werke, bei denen die Musik sich mit ihrer Ästhetik oftmals sehr in den Vordergrund rückt. Will arbeitet in seinen anderen Filmprojekten durchaus ähnlich, etwa in 4BLOCKS (2017–2019), indem er musikalisch stärker akzentuiert. Bei Petzold aber deutet er seine Melodien bloß in leisesten Tönen an, bleibt subtil, auch wenn seine Kompositionen von vielen Zuschauern vielleicht gar nicht als solche wahrgenommen werden, weil sie zu unscheinbar sind. Wie Iakovos Steinhauer in diesem Band ausführt, sind es auch Kompositionen wie die von Toru Takemitsu, die man als Bezugsgrößen nennen könnte. Man wird wiederum an Ozus Komponisten Kojun Saitō, Takanobu Saitō und Senji Itō erinnert, die diese Kunst des Klingens im Hintergrund meisterlich ausführten, indem sie in diesen hineinkomponierten. Will referiert auch auf Johann Sebastian Bach. In einer der schönsten Szenen hören wir in GESPENSTER Bachs Bäche von gesalznen Zähren unerwartet während einer städtischen Autofahrt im Cabriolet, intradiegetisch.33 In einem Gespräch, das wir in Vorbereitung dieses Bandes mit Christian Petzold geführt haben, verwies er selbst auf die Wichtigkeit der Wiederholung. Aus der Differenz zwischen Moment A und B ergebe sich die Narration und bilde sich in der Erinnerung, so auch beim Einsatz der Musik. Petzold erwähnte auch die Musik, die beim Verlassen der Kirche immer erklinge. Das Ritual des Kinobesuchs wird dadurch zu einem quasi-sakralen Ereignis.
Petzolds Faible gilt musikalisch aber den Jazz-Balladen und dem Soul. Immer wieder stiftet die Musik assoziative Brücken zwischen den Figuren, den Erzählebenen wie auch zwischen Gegenwart und Erinnerung. Diese Lounge- und Barmusik im Film darf nostalgisch sein und abschweifen, Erzählpausen inklusive, manchmal ist sie sehr präsent, wie I’m Not in Love von 10cc in POLIZEIRUF 110: KREISE. Oder etwa Julie Londons Song Cry Me A River (1955), den Johannes in seinem Zivi-Zimmer im Schwesternwohnheim Ana vorspielt und tanzend mit ihr ins Deutsche übersetzt. Natürlich lässt sich Petzold die Gelegenheit nicht entgehen, den Song auch am Ende des Films einzuspielen, als Johannes mit Sarah Auto fährt. Dadurch wird die Handlung ironisch eingefärbt und die Zuschauer leise in die Wirklichkeit entlassen, die wie eine Kippfigur wirkt. Ähnlich verfährt Petzold in DIE INNERE SICHERHEIT (How Can We Hang On To A Dream, 1967, von Tim Hardin), YELLA (Road to Cairo von Julie Driscoll, 1969, von Brian Auger & The Trinity), TOTER MANN (What the World Needs Now Is Love, 1965, von Burt Bacharach sowie dessen (There’s) Always Something There to Remind Me), POLIZEIRUF 110: WÖLFE (Anyone Who Had A Heart, 1963, von Dionne Warwick) und bedingt in PHOENIX (Kurt Weills Speak Low, 1943; Night and Day, 1932, von Cole Porter u. a.). Jenseits einer Erzählfunktion gelingt es Petzold so, beinahe vergessenen Liedern eine neue Bühne zu bereiten.
Zu diesem Band
Die hier versammelten Texte arbeiten diese Themenfelder exemplarisch aus und entwickeln in detaillierten Analysen, was hier nur angedeutet werden kann. Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Christian Petzold, der uns in einem internen Gespräch Möglichkeit gab, über seine Filme zu sprechen.
Der Band wird mit Iakovos Steinhauers musikwissenschaftlicher Perspektivierung von Petzolds Arbeiten eröffnet. Er fragt in »Die Hörbarkeit des Transzendenten in den Filmen Christian Petzolds« nach der akustischen Schicht und weist dieser eine wesentliche Funktion für die Dramaturgie der Filme zu. Diese wird mit einer von Max Beckmann benutzten Wendung als »transzendente Sachlichkeit« beschrieben.
In »Schuld in Christian Petzolds WOLFSBURG« lese ich den Film als eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Auffassungsweisen von Schuld: »Die Kausalitäten sind keineswegs so eindeutig, wie man das gerne hätte im Sinne einer juridischen Rekonstruktion von Schuldigkeit. Die Täterschaft erweist sich im konkreten Fall als äußerst kompliziert und uneindeutig, weil es zahlreiche Faktoren gibt, die zu dem Unfall führten.«
Jaimey Fisher folgt in seinem komparativen Beitrag »Der geschlechtsspezifische Raumsinn bei Christian Petzold: UNDINE, CLEO DE 5 À 7 und Doreen Masseys Macht-Geometrien des relationalen Raums« den ästhetischen Bezügen zu Agnès Vardas Film und arbeitet damit einen Hinweis Petzolds aus. Im Kern geht es Fisher um »die Erfassung von historischen Veränderungen anhand des Zusammenspiels sich verändernder weiblicher, gar feministischer Subjektivität und der Stadt«, wobei der Beitrag Untersuchungen Doreen Masseys folgt.
Der Filmwissenschaftler Tetsuya Shibutani hat sich in Japan mit zahlreichen Arbeiten, in Retrospektiven und Screenings um den jüngsten deutschen Film verdient gemacht. Er unternimmt in »Die Untote in der Nachkriegslandschaft. Bemerkungen zu Christian Petzolds PHOENIX« einen Vergleich von Fassbinders mit Petzolds Werk am Beispiel der Figur der Untoten. Es geht um den »Nachhall der Geschehnisse, genauer gesagt den Wunsch, etwas nachzuholen, was sie inzwischen verloren haben. Auf dem realen Boden der Nachkriegsgesellschaft entwickelt sich etwas Phantasmagorisches.«
Kayo Adachi-Rabe vergleicht in ihrem Beitrag »Film als Resonanzraum« Luchino Viscontis Erstlingsfilm OSSESSIONE (BESESSENHEIT, 1943) mit JERICHOW, dabei dient Umberto Ecos Begriff des »offenen Kunstwerks« als theoretischer Bezug: »Während OSSESSIONE eine vitale, explosive Dynamik des Lebens und des Gefühls illustriert, ist die Welt von JERICHOW durch ihre introspektive, implosive Statik, in der die unausgesprochene Emotion schwebt, charakterisiert.«
Felix Lenz stellt in »Männliche Melodramen. Christian Petzolds Beiträge zur POLIZEIRUF-110-Reihe: KREISE, WÖLFE