umbenannt. Ihre kampffähigen Mitarbeiter werden zur Wehrmacht eingezogen. Nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 kommt es keineswegs zu einem von den deutschen Militärs erwarteten Angriff auf die Inseln. Die Channel Islands werden einfach ›links liegen gelassen‹ und stattdessen ausgehungert. Zu diesem Zeitpunkt sitzen 26 000 deutsche Soldaten untätig auf den Inseln herum, benötigen aber wie die Inselbewohner Nahrung, Medikamente, Treibstoff.63 Nach der Eroberung der normannischen Häfen durch die Alliierten bricht der Versorgungsnachschub für die Inseln völlig zusammen. Deutsche Soldaten, die in den Kämpfen in der Normandie verwundet wurden und auf die Inseln gebracht werden konnten, finden in den dortigen Lazaretten keine angemessene Versorgung mehr.
Hans Max Freiherr von Aufseß
In der allmählich unhaltbar werdenden Lage informieren die Deutschen im September 1944 das Rote Kreuz der neutralen Schweiz über das absehbare Ende der Nahrungsvorräte. Viele Inselbewohner hungern bereits. Die Deutschen bieten die Evakuierung der Zivilbevölkerung an, wären aber auch mit der Hilfe des Roten Kreuzes einverstanden. Premierminister Churchill lehnt beide Vorschläge zunächst ab. In sicherer Erwartung der abweisenden deutschen Antwort verlangt er stattdessen die Kapitulation der Besatzer. Gas- und Stromleitungen zu den Inseln werden von den Alliierten gekappt. Die Deutschen beginnen nun unter der Zivilbevölkerung nach verbliebenen Nahrungsmitteln zu suchen und gefundene Nahrung einzuziehen, um die eigenen Soldaten ernähren zu können. Dieser Bruch des Völkerrechts erzürnt die zunehmend verzweifelten Insulaner. Deutschen Landsern wird Zwangsruhe verordnet, um Kalorien zu sparen. Die Truppe ist kaum noch kampffähig. Im November erlaubt das britische Kriegskabinett doch noch Hilfslieferungen durch das Rote Kreuz. Das schwedische Rot-Kreuz-Schiff ›Vega‹ erreicht allerdings erst im Dezember 1944 die Inseln. Im Februar und März 1945 bringt die ›Vega‹ noch einmal dringend benötigte Nahrungsmittel auf die Inseln.64 Einerseits bleibt die Mehrheit der Menschen auf den Inseln, Briten wie Deutsche, von Krieg und Tod verschont – anders als Millionen Europäer auf dem Festland während des erfolgreichen Vorstoßes der Alliierten auf das ›Deutsche Reich‹ –, andererseits müssen die Menschen hungern und große Ungewissheiten ertragen.
Oberst von Schmettow wird im Januar 1945 durch den überzeugten Nationalsozialisten und kampfwilligen Admiral Friedrich Hüffmeier abgelöst. Dieser hält markige Durchhaltereden und unternimmt am 8. und 9. März 1945 einen erfolg- wie verlustreichen Angriff auf die Hafenstadt Granville, die am Westufer der normannischen Halbinsel Cotentin liegt. Es gelingt den Deutschen, Kohle zu erbeuten und einige Amerikaner gefangen zu nehmen. Am 9. Mai kapitulieren die Deutschen aber schließlich trotzdem kampflos. Selbst Hüffmeier muss einsehen, dass seine Truppe keinen Widerstand mehr leisten kann und ein Gemetzel nach dem Selbstmord des ›geliebten Führers‹ und der einen Tag zuvor erfolgten Kapitulation der Wehrmacht ebenso lächerlich wie tragisch wäre. Nach fünf Jahren endet die Zeit der deutschen Besatzung auf den Kanalinseln nicht in einem dramatischen Finale, sondern in einer banalen Übergabe auf einem englischen Kriegsschiff. Die deutschen Besatzer gehen in Kriegsgefangenschaft, während gleichzeitig englische Truppen die Inseln wieder in Besitz nehmen.
Das Verhalten der Inselbewohner während der fünfjährigen Okkupation ist ein heute umstrittenes Thema in der britischen Öffentlichkeit. Unmittelbar nach dem Krieg wird über die Kollaboration oder zumindest Kooperation vieler Insulaner, wie sie auch die Tagebücher des Freiherrn von Aufseß deutlich dokumentieren, zunächst lange Zeit der Mantel eines gnädigen Schweigens gebreitet. Frauen allerdings, die sich mit Deutschen ›eingelassen‹ haben, werden von vielen Insulanern, vor allem von jenen, die den Krieg in England verbracht haben, geächtet.65 Auch dieses Muster ist mit den Vorgängen in Frankreich vergleichbar. Dort werden Frauen nach der Befreiung stellvertretend für den Abgrund an Kollaboration, dessen sich große Teile der französischen Gesellschaft schuldig gemacht haben, gedemütigt und geschlagen.66 Auch die Kinder aus diesen Verhältnissen werden ausgegrenzt. Männer wie Carey oder Coutanche aber, deren Verhalten mindestens diskussionswürdig war, können nach 1945 als geachtete Mitglieder der Inselgemeinschaft weiterleben.
Auf den Kanalinseln gibt es keine Massenerschießungen von Geiseln, und selbst die Repressalien sind im Vergleich zu den Menschheitsverbrechen von SS und Wehrmacht in anderen Teilen Europas weniger dramatisch, dabei aber keineswegs harmlos. Auch auf den britischen Kanalinseln werden zwischen 1940 und 1945 Juden verfolgt, Einwohner deportiert und sterben Hunderte Zwangsarbeiter67. Die Deutschen verwickeln biedere und mit der Situation überforderte Beamte, aber auch viele Inselbewohner in einen Zwiespalt zwischen Widerstand und Überlebenswillen, der manche, aber keineswegs alle Insulaner in die Grauzonen von Kollaboration und Kooperation führt. Der Mikrokosmos der deutschen Okkupation der Channel Islands im großen Makrokosmos des Zweiten Weltkriegs verdient es, auch in Deutschland, im Land der Täter und ihrer Nachfahren, genauer betrachtet zu werden. Es gibt dabei vielleicht aus englischer, ganz gewiss aber aus deutscher Sicht keinen Grund, sich die Jahre 1940 bis 1945 auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney ›schönzureden‹.
Hans Max Freiherr von und zu Aufseß (1906–1993)
Hans Max Freiherr von und zu Aufseß ist vielleicht ein Stück weit, aber sicherlich nicht ganz und gar der ›gute Deutsche‹, als der er sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern darzustellen versucht und als der er in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg auch in englischen Publikationen geschildert wird. Als Teil eines Besatzungsregimes gehört er zu den Mittätern, wobei der Begriff des ›Täters‹ selbstverständlich differenziert werden muss. Freiherr von Aufseß ist kein Mörder, aber ein Rädchen im Getriebe eines Mordapparats.
Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, die Menschen der Vergangenheit mit erhobenem moralischen Zeigefinger zu beurteilen und ihnen ihre Schwächen vorzuhalten. Doch der Mühe einer kritischen Einordnung in den historischen Kontext und einer Abwägung der Handlungsmöglichkeiten und -spielräume, die diesen Menschen in schwierigen, potentiell verbrecherischen Umständen zur Verfügung standen, sollte man sich als Historiker doch unterziehen. Das gebietet schon allein der Respekt vor den Subjekten der Untersuchung. Folgt man aber der einzigen umfassenderen deutschsprachigen Biographie, die 2015 in den ›Fränkischen Lebensbildern‹68 erschien, war Hans Max Freiherr von Aufseß ein bruchlos tadelloser Mann, der auf den Inseln sein Möglichstes tat, um die Einwohner vor den größten deutschen Repressalien zu schützen. Der Verfasser dieser Biographie folgt dabei dem von Aufseß selbst geschaffenen, von Casper, dem Hauptverantwortlichen für die Durchführung der von seinen Vorgesetzten in Paris angeordneten antijüdischen Maßnahmen auf den Inseln69, und einigen englischen Autoren nach dem Krieg weiter tradierten Bild einer ›guten Okkupation‹ durch gebildete und distinguierte Besatzer von adeligem Geblüt. Casper verweist in seinem wenig glaubwürdigen Verteidigungsbüchlein auf englische Zeugen, die von Aufseß als tadellosen Besatzer schildern: »Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten von deutscher Seite, soweit es die Zivilbevölkerung betraf, und eine der interessantesten (…).«70 Auch die 2014 publizierte Chronik der Familie von Aufseß unterlässt eine Einordnung in den historischen Kontext und erwähnt die Tätigkeit des Freiherrn auf den Kanalinseln nur in dürren Worten.71 Selbst im Jahr 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, sind noch die alten Mechanismen von Verdrängung und Verleugnung der unmittelbaren Nachkriegszeit wirksam. Doch nur selten präsentiert sich die Vergangenheit, wenn man sie gründlich betrachtet, als eindimensionale Angelegenheit ohne Widersprüchlichkeiten und Brüche. So ist es auch bei Hans Max Freiherr von und zu Aufseß, der sich gern selbst mit ›HMA‹ abkürzte.
Die Quellenlage zur Biographie des Freiherrn von Aufseß ist gut, wurde bisher aber in Teilen übersehen oder ignoriert. Die Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP im Bundesarchiv Berlin gibt Auskunft über eine Parteimitgliedschaft, die aussagekräftige Spruchkammerakte des Entnazifizierungsverfahrens befindet sich im Staatsarchiv Coburg. Unterlagen des Kriegsgefangenenlagers ›Camp 18 – Featherstone Park‹ mit Informationen zu Hans Max von Aufseß’ Zeit als ›Prisoner of War‹ (›PoW‹) lagern im National Archive im Londoner Stadtteil Kew. Im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld befindet sich