Michael Bohm

Die Sanduhr in meinem Kopf


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vergangenen Jahr wurde ich gebeten, im Rahmen einer Vortragsreihe Große Frauen der Geschichte, vom Kloster Peterhof veranstaltet, über die Heilige Hildegard zu sprechen. Meine spontane Zusage hatte zur Folge, dass ich mein Wissen über Hildegard und ihre Zeit überprüfen und ordnen musste, am besten chronologisch. Daraus ergab sich zwangsläufig, mich auch mit den nicht unwesentlichen Widersprüchen während des Erdenweges der adeligen Frau zu befassen.

      Da ich meine Zuhörer nicht zu sehr mit Daten und Fakten belasten wollte, wählte ich besondere Stationen aus der mehr als acht Jahrzehnten währenden Lebenszeit der Hildegard.

      KINDHEIT UND JUGEND

      Denke ich mir Hildegard als Kind, sehe ich sie in einer blühenden Wiese sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Es ist wieder solch ein Moment, in dem sie ein helles Licht sieht, sich von einer strahlenden Aura umgeben fühlt. Sie ist ein dreijähriges Mädchen, als sie zum ersten Mal spürt, wie dieses Licht in ihr Herz dringt, und sie fest daran glaubt, dass Gott ihre Seele berührt.

      Die Blumenwiese, die sie so sehr liebt, von der sie ihr Leben lang träumen wird, gehört zum Gut Bermersheim, welches ihrer Familie gehört. Das lassen mich meine Unterlagen als gesichert annehmen. Wann und wo Hildegard das Licht der Welt erblickte, ist nicht zweifelsfrei zu belegen. Von adeliger Herkunft wurde sie wohl im Jahre 1098 auf Gut Bermersheim oder aber in Niederhosenbach als zehntes Kind ihrer Eltern geboren.

      Hildegard begreift früh, dass ihr Leben der Kirche gehören wird. Als zehntes Kind ist dieser Weg beinahe fest vorgegeben, sie ist die Dank- und Opfergabe der Familie an Gott. Das Mädchen sieht sich herausgehoben, bevorzugt, spürt eine Heiterkeit, wenn sie an ihre Rolle denkt. Sie selbst beschreibt, wie sie mit acht Jahren Gott dargebracht wurde und damit ihr geistig-religiöser Weg begann. In ihrer neuen Umgebung wird man sich sehr bald gefragt haben, wer die Hildegard denn sei, dieses Mädchen, das gern von dem Licht erzählt, das sie immer wieder sieht.

      KLOSTER DISIBODENBERG

      Mit zwei anderen jungen Frauen kommt Hildegard in das Benediktinerkloster Disibodenberg. Ihr Einfluss dort nimmt so zu, man kann beinahe von einer friedlichen Übernahme sprechen, dass sie von ihren Mitschwestern zur Magistra gewählt wird. In dieser Führungsrolle sehe ich die junge Hildegard vehement und zäh für ihre Überzeugungen streiten. Noch steht sie als Person selbst hinter dem, was sie sagt und tut, bezieht sich noch nicht auf die Weisungen des Himmels. Natürlich kann der Abt des Klosters eine Frau mit eigenen festen Vorstellungen nur schwer ertragen, so etwas passt nicht in die Zeit.

      Ich sehe sie zusammensitzen, Hildegard und den Abt, sehe sie sprechen, und das ist ein zähes Ringen. Schritt für Schritt geht Hildegard voran. Schritt für Schritt weicht der Abt zurück. Die Magistra hat sich vorgenommen, der Askese die unbedingte Strenge zu nehmen, die rigorosen Essensvorschriften, die anstrengenden Gebetszeiten und die endlosen Gottesdienste für die Schwestern leichter ertragbar zu machen. Während dieser Gespräche entdeckt Hildegard den Humor als eine unwiderstehliche Waffe, die starke Mauern zerbröseln lässt. Doch bei einem Punkt stößt sie auf Granit: mit ihrem Wunsch nach einem eigenen Kloster. Was für eine Idee! Das geht schon aus Prinzip nicht. Hinzu kommt noch ein bedeutender wirtschaftlicher Grund. Hildegard ist für das Kloster zu wichtig, da sie zu dieser Zeit bereits außerhalb der Klostermauern bekannt und beliebt ist.

      HILDEGARDS VISIONEN

      Die Lichterscheinungen Hildegards sind für sie längst Erinnerungen, auf die sie inzwischen nicht mehr unbedingt setzen muss. Sie kommen ihr erst wieder stärker in den Sinn, als ihr der Humor nicht mehr weiterhilft. Sie sucht einen Weg, ihren wachsenden Einfluss unangreifbar zu machen, die Männergemeinschaft der Kirche mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Der Gedankensprung von den Lichtern zu Visionen, die vom Himmel kommen, ist da nicht weit. Welcher Kirchenmann, ob Abt, ob Bischof wird es wagen, Zeichen des Himmels anzuzweifeln?

      Sie erweist sich als geschickte Taktikerin. Sie schreibt einen Brief an Bernhard von Clairvaux, sucht bei ihm Anerkennung ihrer Visionen. Der Abt verfasst seine Antwort so, dass Hildegard seine Worte ganz in ihrem Sinne zu interpretieren vermag. Sie betritt ihren Weg als Seherin ohne Zögern und ganz im Vertrauen auf dessen Richtigkeit.

      Ich sehe Hildegard mit einem Schreiber und einer Vertrauten im Skriptorium des Klosters sitzen. Sie diktiert ihre Eingebungen, die unmittelbar in Latein, das sie nur unzureichend beherrscht, niedergeschrieben werden.

      So entsteht eines ihrer Hauptwerke, Scivias – Wisse die Wege – eine Glaubenslehre. Die schwierigen Texte sind kein fester gangbarer Weg, sie können aus verschiedenen Sichten gesehen und ausgelegt werden, beziehen vielleicht gerade daraus ihre starke Wirkung. (Übrigens: Die Handschrift gilt – ein wirkliches Unglück – seit Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen.)

      Hildegard arbeitet geschickt und unermüdlich an ihrem »guten« Ruf. Vom Papst lässt sie sich das Recht zur Veröffentlichung ihrer Schriften erteilen. Das steigert weiter ihre Bedeutung. Gern gibt sie dazu kund, dass es der Himmel selbst war, der sie zu den Aufzeichnungen aufgefordert hat. Eine Stimme, sagt Hildegard, habe zu ihr gesprochen, sie solle die ihre im Auftrag des Höchsten erheben und schreiben.

      KLOSTER RUPERTSBERG

      Hildegards Einfluss wächst mit ihrer Bedeutung. Sie wird eine mächtige Frau. Ein wirkliches Novum zu ihrer Zeit. Sie hat den Ruf einer Botin des Himmels, der ihr Schutzschild ist, kann sie doch damit dem Widerstand vor allem aus dem höheren Klerus, der sehr subtil und feingesponnen ist, auf eine erhabene Weise entgegenwirken.

      Ich sehe sie inmitten ihrer Mitschwestern im Refektorium »ihres« Klosters Rupertsberg, das sie irgendwann in den Jahren um 1150 links der Nahe endlich gründen konnte. Hildegard hat jetzt nicht mehr allein den Ruf einer Visionärin, sondern zudem den einer Universalgelehrten. Das sind die beiden Punkte, die sie auf Augenhöhe mit den mächtigen Männern der Kirche und der Welt stellen. Ihre klaren Worte und vor allem der schnell wachsende Reichtum ihres Klosters machen Hildegard angreifbar, wie oft, wenn ein Mensch einen besonderen Weg geht, und ihre Gegner sind nicht immer zimperlich. Aber die Klosterfrau weiß sich zu wehren. Ihre Gemeinschaft, so sagt sie kämpferisch, dürfe nicht nur beten. Gehe es nicht um geistliche, sondern um weltliche Dinge, dann sei allein kühle Vernunft gefragt, kein heißes Herz.

      Ihr starkes Selbstbewusstsein, ihre hochstehende Moral öffnen ihr nicht nur die Herzen und Ohren der Nonnen, sondern auch Mönche, Adlige und gebildete Laien hören auf Hildegard.

      Außer Scivias hat die fromme Frau das Buch der Lebensverdienste, das Visionen mit der Thematik der moralischen Verantwortung des Menschen sammelt, geschrieben. Ein dritter Band ist das Buch der göttlichen Werke, der Mensch und Welt beschreibt.

      DIE BERATERIN

      Ich sehe Kaiser Barbarossa in seiner Pfalz zu Ingelheim mit einer Nonne am Kaminfeuer sitzen und die Köpfe zusammenstecken, um die Szene in heutiger Sprache zu beschreiben. Der Kaiser hat Zutrauen zu dieser Frau gefasst, die aus der Einfachheit des Herzens heraus den richtigen Ton und die richtigen Worte trifft, um den erwünschten Rat zu geben. Denkt der Kaiser an ihre Ansicht zu seinem Kriegszug, muss er schmunzeln. Die Grundfarbe der Geschichte sei rot, Herr, blutrot. Das dem mächtigsten Mann zu sagen, traue ich Hildegard ohne Weiteres zu.

      Nicht nur der Kaiser, auch Könige, Päpste, Bischöfe suchen vor wichtigen Entscheidungen ihren Rat. Es sind nicht nur die hohen Herren, auch dem einfachen Volk wird sie zur Wegweiserin, obwohl sie sich – Koketterie? – gern als ungebildet bezeichnet. Diese »ungebildete« Klosterfrau geht jedoch auf theologische Reisen, predigt, spricht mit Offenheit den Niedergang der Kirche und des Klerus an. Vor gefährlichen Gegenangriffen schützt Hildegard sich stets mit der starken Deckung ihrer »göttlichen Visionen«. Nicht sie spricht, Gott spricht aus ihrem Mund.

      Es waren nur selten persönliche Begegnungen, so wie mit dem Kaiser, meist waren es schriftliche Verbindungen zur Welt. Ihre Korrespondenz war sehr umfangreich. So darf die Sammlung ihrer Briefe ohne Frage zu ihrem schriftlichen Werk gezählt werden.