falschen Kind öffnete die Schleuse der Verleumdung. Die Männer pochten auf das Gesetz. Frauen und Sklaven durften keine Ärzte sein.
Agnodike wurde in das Gerichtsgebäude bei der Agora gebracht. Dort wartete sie mit anderen in einem düsteren Raum auf ihren Prozess. Lange konnte das nicht dauern, war der Ärztin klar. Solch ein Frevel musste schnell gesühnt werden. Zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sie keine Angst, wartete in philosophischer Ruhe, gedachte ihrem Traum, der sich so wunderbar erfüllt hatte. Nun hatte er sich wie der feine Morgennebel verflüchtigt, womit sie ja jeden Tag, jede Stunde hatte rechnen können. Die Götter hatten es erst gut mir ihr gemeint, nun hatten sie ihre schützenden Hände von ihr genommen – das den Menschen bekannte Spiel eben.
Was Agnodike von ihren Mitgefangenen unterschied und ihr viel Respekt bei ihnen einbrachte, waren die Besuche hochstehender Frauen aus der besseren Gesellschaft. Jeden Tag kam eine andere ihrer Freundinnen, um sie zu trösten. Die Gefangene selbst war sich der Ironie bewusst, die hinter dem schönen Schein steckte. Das Ansehen und Vertrauen ihrer Mitgefangenen gewann sie alleine aus dem Umstand, dass ihre Besucherinnen zur führenden Schicht Athens zählten. Es war ebenso eine Farce, dass sie in Männerkleidung versteckt alle wichtigen Häuser der Stadt betreten durfte, obwohl alle zu gut wussten, dass sie eine Frau war. Als Agnodike bei diesen Gedanken lächeln musste, staunten die anderen über ihre scheinbare Gelassenheit.
Eine der Frauen, die in diesem trostlosen Raum wie alle anderen zu jeder Stunde darauf wartete, zur Verurteilung geholt zu werden, war krank. Sie war hierher gebracht worden, weil sie sich gegen ihren gewaltsamen Mann zur Wehr gesetzt hatte. Agnodike sprach mit ihr, denn nach ihrer Erfahrung hatten die körperlichen Symptome der Frau seelische Gründe. Herophilos, ihr verehrter Lehrer, hatte sie fast jeden Tag daran erinnert, dass der Arzt neben dem Körper auch für die Seele der Patienten sorgen müsse. Wichtig waren das aufmerksame Zuhören und das intime Gespräch. Agnodike hielt sich an diese Regel und schon durch diese Therapie besserte sich der Zustand der Mitgefangenen zusehends.
Da wurde die Tür geöffnet und herein kam Agnodikes einfluss-
reichste Freundin, der sie geholfen hatte, drei gesunde Kinder auf die Welt zu bringen. In der Ecke unter dem einzigen Fenster des gemauerten Raumes flüsterte der Besuch von der guten Nachricht. Wie Sphärenmusik klang es Agnodike in den Ohren, als sie erfuhr, sie würde in den nächsten Tagen vor den Richter gerufen. Nein, kein Urteil erwarte sie, sondern ihre Freiheit. Die Freundinnen hätten ihre Männer von der Notwendigkeit eines Umdenkens überzeugt.
Agnodikes Augen leuchteten auf, wurden aber nach einer Weile wieder trübe. Sicherlich würden in Zukunft strenge Augen über sie wachen, damit sie das Verbot beachte.
Nein, widersprach die Freundin, es würde kein Verbot mehr geben. Sie dürfe jetzt frei als Geburtshelferin den Frauen zu Seite stehen. Zwei Bedingungen: Sie muss weiterhin in Männerkleidung die Häuser betreten und sie darf nicht öffentlich über ihre Tätigkeit als Geburtshelferin sprechen.
Agnodike umarmte die Freundin.
»Liebe Agnodike, fünf Frauen warten schon mit heißem Herzen auf deine begnadeten Hände und deinen Mut machenden Zuspruch.«
Agnodike stiegen die Tränen in die Augen, ihr Gesicht wurde rot vor Freude.
Agnodike sei das helle Licht der Frauen, rief der hohe Besuch in den trüben Gefängnisraum, in dem kurz die Hoffnung leuchtete.
Nachtrag
Diese kurze Erzählung über die Ärztin Agnodike war längst aus den Bildern in meinem Kopf zu Wörtern auf dem Papier verwandelt, als ein nicht ganz unbekannter Regisseur bei mir anrief, um anzufragen, ob ich für die Wormser Festspiele ein Stück schreiben könne. Was für ein Stück? Das Thema könne ich mir aus dem antiken Griechenland fischen.
Noch den Hörer am Ohr fiel mir Agnodike ein. War sie ein Thema für die Bühne? Drei Akte: Leben auf der Agora, Szenen im Gefängnis, Treffen der Frauen. Das könnte gehen.
Was mich von Agnodike Abstand nehmen ließ, war der Einwand, wer denn diese Frau, auf die ich durch einen Zufall gestoßen war, überhaupt kenne?
Agnodike hat einfach das Pech, zu sehr eine unbekannte Bekannte der Geschichte zu sein. Das attische Licht der Frauen wurde nicht völlig vergessen, aber auf die Erinnerung an sie fiel der breite Schatten der herrschenden Männerwelt. Sie ist und bleibt auf jeden Fall ein Juwel für meine Sammlung bemerkenswerter Frauen und steht zu Recht am Anfang dieser Geschichten.
Die Gefährtin
Maria Magdalena, Zeugin der Auferstehung
Immer habe ich die chaotischen Bilder dieser Sturmnacht vor Augen, denke ich an die Frau, die ich Mirjam nenne. Vor einigen Tagen habe ich Mirjam tot in der Höhle gefunden. Nachdem ich dem Ältesten der Gemeinde die Kunde brachte, holten sie die Tote und taten, was ihnen ihr Glaube gebot.
Ich sitze auf der Bank vor meinem Haus und denke über Mirjam nach. Hinter dem Kiefernwäldchen weiß ich das Meer. Es kann rau, sogar wütend, meist aber ebenso friedlich und lockend sein. Über den jetzt dunklen Bäumen ist gerade der Feuerball des Tagesgestirns versunken, malt noch das Firmament rot an. Das idyllische Bild verleiht meinen Gedanken Flügel, lässt den alten Mann, der ich bin, fliegen.
Mein Sinnen trägt mich leicht in die Zeit zurück, als mein Leben von einem zum anderen Tag einen wirklichen Sinn bekam. Bis dahin lebte ich, wie alle meine Kameraden, den geregelten Ablauf eines Soldaten des römischen Reiches. In meinem Fall das eines Hilfssoldaten in der kaum im Licht stehenden Region Provincia.
Dafür, dass ich kein Römer war, hatte ich viel erreicht, was auch meiner besseren Bildung – ich konnte lesen und schreiben – zu danken war. Ich hatte die Führung über zwanzig Soldaten, Teil einer Kohorte, die im Kastell Massalia (Marseille) stationiert war, um einen bestimmten Strandabschnitt und das dahinter liegende Land bis zum nächsten Schnittpunkt zu kontrollieren.
Seit Tagen wurden wir von wütendem Sturm und peitschendem Regen heimgesucht, zu dieser Jahreszeit allerdings kaum ungewöhnlich. Bist du bei diesem Wetter als Soldat auf einem Kontrollgang, musst du die Unbilden stoisch hinzunehmen lernen.
Ich hatte die Protokolle vom Abend und dem ersten Teil der Nacht fertig gemacht, mich gerade eben auf die Pritsche gelegt. Wieder einmal war ich hundemüde, hatte keinen dankbaren Gedanken übrig für die Wohltat der kurzen Ruhezeit im Trocknen und Warmen, da fühlte ich mich an der Schulter gepackt und angerufen.
Noch duselig im Kopf erfasste ich, es ging um ein Schiff, das den Felsen zu nahe gekommen und zerschellt war. Darauf eingeübt im Schlaf noch richtig zu funktionieren, sprang ich vom Lager, warf mir den noch feuchten Umhang über, stülpte mir den breiten Hut auf den Kopf. Gleich waren wir draußen in der so hässlichen wie finsteren Nacht. Sturm und Regen kamen immer noch vom Meer her. Besser würde es erst, wenn sich die Richtung änderte.
Wir stolperten zu viert tief gebückt dem Wald entgegen, der uns für eine Weile gegen den Wind schützte. Gleich darauf waren wir am oberen Strand, jetzt als Winzlinge den bösen Riesen hilflos ausgesetzt.
Wir eilten den flachen Hang im nassen Sand hinunter. Vor uns tauchten als dunkle Ungeheuer die schroffen Felsen auf. Die wildschäumenden Wellen umspülten immer wieder unsere Füße. Wir achteten nicht darauf, starrten in das diffuse Dunkelgrau, in dem wir das zerschlagene Segelschiff mehr ahnten als sahen. Wir konnten keine Lebenszeichen am Wrack erkennen. Nur ein helles Blitzen war hin und wieder auszumachen, die zerfetzten Reste des Segeltuchs.
Aus Erfahrung war uns klar: Zu machen war da im Moment nichts. Wir wandten uns ab, stapften im nassen Sand mit krummen Rücken den Strand entlang bis zu der Stelle, wo wir über uns die Höhlen wussten. Sehen konnten wir sie nicht. Dennoch zog es mein Gesicht in die Höhe, setzte es ungeschützt dem Regen aus. Ahnte ich da schon das Ungewöhnliche, das dort oben wartete und mein Leben verändern sollte?
Wir