Elvira Lang

Sedieren ohne Medikamente


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Tagen einer weiteren Operation unterziehen müsse. Das Paar, das seit über 50 Jahren verheiratet war, war gerade erst in die USA übergesiedelt. Während ihres gemeinsamen Lebens hatten es überaus schwierige Situationen gemeistert, und der Mann hatte immer für seine Frau gesorgt und war ihre emotionale Stütze gewesen. Es war für die Frau unerträglich, sich mit dem Gedanken zu konfrontieren, den Mann, der ihr so viel bedeutete, zu verlieren; sie wurde immer aufgeregter. Sie rannte den Flur entlang und fing an, zu schreien, zu gestikulieren und das Krankenhauspersonal zu beleidigen und zu bedrohen. Sie konnte sich nicht mehr beruhigen.

      Das Team wollte schon das Wachpersonal rufen. Elvira Lang bat die Beteiligten, sich noch einen Augenblick zu gedulden. Sie näherte sich der schreienden Frau und begann mit ihr zu interagieren, indem sie ihre Bewegungen nachahmte. Elvira Lang imitierte das wilde Gestikulieren der Frau und ihre laute Stimme so gut wie möglich. Sie schwang ihre Arme so energisch auf und ab, wie es die Frau tat, und antwortete auf die schrillen Fragen und Klagen mit fast der gleichen lauten Stimme. Während der nächsten 30 Sekunden verringerte Elvira Lang Ausmaß und Geschwindigkeit ihrer Armbewegungen, tat tiefere und langsamere Atemzüge und senkte allmählich ihre Stimme. Die Patientin folgte dieser Führung und sehr bald sprachen beide schon viel gemäßigter, bis sich die Frau einigermaßen unter Kontrolle hatte und auf eine Weise kommunizierte, die besser zu dieser kritischen Situation passte.

      Elvira Langs anfängliche Stimmlage und Bewegungen waren wahrscheinlich sehr »unangemessen« für einen Arzt. Diese eher ungewöhnliche Reaktion auf die verzweifelte Frau des Patienten war aber nötig, um eine Verbindung zu ihr und Rapport herzustellen. Es war sicher eigenartig, eine Ärztin laut schreien und gestikulieren zu sehen – auch wenn es nur für einige Momente war –, aber es war definitiv hilfreicher, als nur zuzusehen, wie das Wachpersonal die von ihren Ängsten überwältigte Frau wegführt.

      (Fallnotizen von E. Lang)

      Was dieser Fall zeigt: Es ist leicht, Rapport bei einer anderen Person herzustellen, wenn man ihre Körperhaltungen und Gesten, ihre Stimme oder ihr Atemmuster spiegelt. Am Anfang bestimmt die Person, die Sie spiegeln, den Rhythmus. Wenn Sie sich synchronisiert haben, können Sie das Tempo verringern und die andere Person mit Ihrem Beispiel hin zu wünschenswerteren Verhaltensweisen leiten (Leading).

      Dasselbe Prinzip, dass Sie in Kapitel 3, »Rapport durch Spiegeln der Körperhaltung herstellen«, gelernt haben, kann auch auf das Imitieren des Rhythmus der Gestik, der Tonfärbung und der Sprechgeschwindigkeit oder des Atemmusters angewandt werden. Spricht ein Patient zum Beispiel mit einer langsamen und niedergeschlagenen Stimme, dann könnte er hinter dem fröhlichen Geplapper seines Gegenübers mangelndes Verständnis vermuten. Auf der anderen Seite würde die emotionslose, ruhige Ansprache eines laut schreienden, wild gestikulierenden Patienten, wie in Fallbeispiel 4 diesen wahrscheinlich noch wütender machen.

      Während das Spiegeln des Patienten Ihnen dabei helfen kann, schnell Rapport mit ihm herzustellen, ist es weder für Sie noch für den Patienten wünschenswert, in einem Zustand voller Stress und Trauer oder mit sonstigem Unwohlsein stecken zu bleiben. Ihr Ziel ist es letztlich, den Patienten in ein besser austariertes emotionales und körperliches Gleichgewicht zu bringen, in dem er wieder Zugriff auf seine Ressourcen bekommt. Um dieses Ziel zu erreichen, machen Sie sich zunutze, dass Ihr Spiegeln keine Einbahnstraße ist (Miles, Nind a. Macrae 2009; van Baaren, Maddux a. Chartrand 2003). Wenn Sie beim Patienten bleiben und sich an dessen Rhythmus anpassen (Matching), bis Sie beide synchronisiert sind, wird der Patient unbewusst damit anfangen, auch Sie zu spiegeln. Ihre Änderungen des Rhythmus erlauben dem Patienten im Sinne einer Anleitung (Leading), seinen momentanen Zustand zu verlassen, Ihrem Beispiel zu folgen und in einen Zustand überzugehen, in dem der Patient sich besser fühlt und wieder Zugang zu den eigenen Ressourcen erhält.

      Gestresste Patienten atmen oft schnell und flach. In diesem Kontext hat das Nachahmen des Rhythmus das Ziel, den Patienten anzuleiten, sich zu entspannen und tiefer, langsamer und regelmäßiger zu atmen. Dies kann schnell erreicht werden. Wenn man den Atemrhythmus des Patienten für kurze Zeit spiegelt und dann einen tiefen Atemzug nimmt, danach langsam mit einem leisen »ahh« ausatmet und eine Haltung einnimmt, die den Brustkorb weitet, kann das den Patienten rasch zurück in sein inneres Gleichgewicht bringen. Es ist beim Spiegeln wichtig, nicht zu lange zu hyperventilieren, damit es Ihnen nicht schwindelig wird.

      Wenn Ihr Patient zusammengesunken und traurig dasitzt, können Sie eine ähnliche Körperhaltung einnehmen, einige Momente mit leiser, weicher Stimme sprechen und ihn dann in eine Position des Selbstvertrauens führen, mit hörbarem, tiefem Einatmen und zufrieden-entspannter Ausatmung. Wie im folgenden Tagebucheintrag von Elvira Lang gezeigt wird, können diese einfachen Handlungen sogar verhindern helfen, dass ein Patient in einer Notlage intubiert werden muss.

       Das Ultimatum

      Ein Mann wurde nach einem Motorradunfall auf einer Traumatrage in die Notaufnahme gebracht. Körper und Halswirbelsäule waren fixiert worden. Seine Augen waren weit aufgerissen und voller Angst. Er trug eine Sauerstoffmaske, und sein Atem ging sehr schnell. Der Betreuer in der Notaufnahme machte sich große Sorgen, der Patient könne das Bewusstsein verlieren, wenn er weiter so schnell und flach atmet. Er wies den Patienten einige Male ohne Erfolg an, langsamer zu atmen. Verzweifelt warnte er den Patienten: »Wenn Sie weiter so atmen, bleibt uns nichts anderes übrig, als Sie zu intubieren.« Ob der Patient verstand, was das bedeutet, oder nicht – diese Warnung half ihm jedenfalls nicht dabei, sich zu beruhigen.

      Da näherte sich eine unserer Krankenpflegerinnen dem Patienten, stellte sich ihm vor und begann, die rasche Atemweise des Patienten nachzuahmen. Sie passte sich für ein paar Atemzüge dem Rhythmus des Patienten an und verlangsamte ihren Atemrhythmus nach und nach auf ein normales Niveau. Der Patient folgte ihr dabei und atmete langsamer. Die Krankenpflegerin bemerkte dies und ermutigte ihn. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Gut, hmmm«, atmete weiter normal und wiederholte vertrauensvoll: »So ist es gut, hmm.« Ihr spiegelndes Verhalten und ihre Anleitung (Leading) waren erfolgreich. Eine Intubation war nicht erforderlich.

       Spiegeln Sie die Körperhaltung des Patienten, seine Gesten, den Klang seiner Stimme, seinen Atemrhythmus, um einen schnellen Rapport zu etablieren.

       Besteht erst Rapport, werden nicht nur Sie sich dem Patienten anpassen wollen, auch der Patient wird unbewusst versuchen, Sie zu spiegeln.

       Sobald Sie und Ihr Patient sich synchronisiert haben (Matching), können Sie nach und nach Veränderungen vorgeben, die ihn in einen besseren Zustand und eine Haltung geleiten (Leading) und ihm wieder Zugang zu seinen eigenen Ressourcen verschaffen.

       Rapport, Matching und Leading bilden eine Art Dreiklang und bauen aufeinander auf.

      Wenn Sie das nächste Mal mit einer Gruppe von Leuten in einer Besprechung, in der U-Bahn, in einem Warteraum oder Restaurant sitzen, beobachten Sie, wer in der jeweiligen Umgebung wen imitiert. Kontrollieren Sie Ihre eigene Körperhaltung. Ahmen Sie gerade unbewusst eine andere Person nach? Wenn nicht, dann beginnen Sie damit. Nachdem Ihr Nachahmen eine Weile anhält, bringen Sie Ihren Arm, Ihre Hand oder Ihr Bein in eine andere Position, und beobachten genau, was dann um Sie herum passiert. Sie werden vielleicht erstaunt sein, dass vollkommen fremde Menschen Ihre Bewegung nachahmen werden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Vielleicht fällt Ihnen aber auch auf, dass Sie eine andere Person in Ihrem Umfeld imitierten.

      Wenn Sie Ihrem nächsten Patienten begegnen, folgen Sie ein paar Atemzüge lang seinem Atemrhythmus, und führen Sie ihn dann mit einem schönen, tiefen, fröhlichen Einatmen und Ausatmen. Beobachten Sie, was passiert.

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