Elvira Lang

Sedieren ohne Medikamente


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oder in Kombination – für Sie am besten wirkt. Beobachten Sie Ihre eigenen Reaktionen und die der Person, mit der Sie gerade zu tun haben. Erkennen Sie bei dieser eine größere Bereitschaft, Ihren Vorschlägen zu folgen? Erledigen Sie Ihre Aufgaben mit mehr Leichtigkeit und Effizienz?

      2 Die Balance zwischen Nähe und Distanz finden

      Das erst vor Kurzem eingestellte neue Mitglied des Behandlungsteams unseres Krankenhauses machte einen selbstsicheren und sympathischen Eindruck, bis es Zeit für die Teamsitzung war. Für diesen täglichen Termin versammelten sich die etwa zehn Teammitglieder vor einer Wandtafel, auf der die Namen der an diesem Tag behandelten Patienten aufgelistet waren. Als die Mitglieder unseres Teams zusammenkamen, um die Fälle des Tages zu besprechen, schien das neue Teammitglied C. angespannt zu sein und trat ständig einen Schritt zurück, weg von der Gruppe.

      In den nächsten Wochen fiel mir auf, dass C. klar definierte Grenzen hatte. Kam ihm jemand näher als etwa 1,20 m verspannte sich C. sichtlich. Kam ihm jemand näher als etwa 1 m, trat C. zurück, selbst wenn er sich dazu in eine unsichere Position manövrierte. Einmal wich C. rückwärts in eine schmale Nische zwischen dem Computer und einer Wand aus und versuchte von diesem beengten, für ihn aber angenehmeren Ort aus das Gespräch fortzusetzen.

      Dieses ausweichende Verhalten wiederholte sich regelmäßig. C. war sich offensichtlich seines Verhaltens gar nicht bewusst, und das Team schien ihm keinen zusätzlichen Raum geben zu wollen. Traf C. einen Patienten oder anderen Mitarbeiter allein, konnte man das gleiche Verhalten beobachten. Es kam vor, dass, wenn C. einen Schritt zurücktrat, sein Gesprächspartner einen Schritt nach vorne ging. C. trat dann noch einen Schritt zurück. Sein Gegenüber machte daraufhin noch einen Schritt auf ihn zu, bis C. quasi nicht mehr entkommen konnte. Leider erschwerte dieses starke Bedürfnis von C. nach Abstand die Kommunikation mit ihm sehr und ließ sie manchmal vollkommen entgleisen, besonders dann, wenn der Gesprächspartner seinem Bedürfnis nicht nachkam oder nachkommen konnte.

      Immer, wenn ich C. begegnete, war mir sehr daran gelegen, die besonderen räumlichen Bedürfnisse von C. zu respektieren, und blieb immer wenigstens 1,20 m von ihm entfernt. Durch diese Anpassung an seine Bedürfnisse musste ich meinen bevorzugten persönlichen Abstand etwas vergrößern. Nachdem wir ein paar Jahre im Team zusammengearbeitet und gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz entwickelt hatten, konnte ich mit C. in ungefähr 1 m Abstand ein gutes Gespräch führen, ohne dass er rückwärts auswich oder eine Anspannung bemerkbar war. Allerdings sorgte ich immer dafür, ein Gespräch mit ihm nur anzufangen, wenn es genug Platz gab, um gegebenenfalls einen Schritt zurückzutreten und zusätzlichen Abstand zu schaffen.

      (Fallnotizen von E. Lang)

      Was dieser Fall zeigt: Menschen unterscheiden sich in ihren Bedürfnissen und Vorlieben, ihren persönlichen Raum betreffend – also bezüglich des Abstands, den sie im sozialen Kontakt mit einer anderen Person einzuhalten versuchen. Manche Menschen stehen gerne ziemlich nah bei ihrem Gesprächspartner. Andere brauchen einfach mehr Abstand. Viele Menschen können sich unbewusst auf einen bestimmten Abstand einigen, während sie sich unterhalten. Andere sind ziemlich rigide bezüglich ihrer Bedürfnisse und Vorlieben, besonders in stressigen Situationen. Werden die persönlichen Bedürfnisse nach Abstand missachtet oder ignoriert, beeinträchtigt dies die Kommunikation erheblich. Der Rapport wird behindert, und die Chancen einer Verständigung verringern sich.

      Die festen Verknüpfungen im Gehirn sind eine Erklärung für die persönlichen Raumpräferenzen. Der Mensch beginnt sein Leben mit einem Bedürfnis nach sehr engem Kontakt. Die Chemie des Gehirns und des Körpers fördert die Nähe des Babys zu seiner Mutter, damit es Nahrung und Wärme erhält und vor Gefahren geschützt ist (Pederson 2004). Gleichzeitig sind die Menschen vorprogrammiert, einen Sicherheitsabstand zu Fremden und allem Unbekannten zu halten. Befinden sich Bedrohungen in sicherer Entfernung, wird unser Vorderhirn aktiviert, um Möglichkeiten und Lösungen optimal kritisch auszuloten. Allerdings wird das Mittelhirn aktiver, sobald eine Gefahr näherkommt, und triggert ohne komplexere kognitive Beteiligung des Vorderhirns eine Kampf- oder Fluchtreaktion mit dem Versuch, den Abstand wiederherzustellen (Mobbs et al. 2007). Dennoch benötigen einige Menschen mehr Nähe, um sich sicher zu fühlen, besonders in einer Gefahrensituation, in der sie das Gefühl brauchen, beschützt und verstanden zu werden, so wie sie es als Kind in den Armen ihrer Mutter waren.

      Wie sich die gleichzeitigen, konkurrierenden Impulse nach Nähe und Abstand auf die Entwicklung der Person und ihre Wahrnehmung als Erwachsener auswirken, ist individuell sehr unterschiedlich. Für die meisten Menschen ist das Bedürfnis nach persönlichen Grenzen einigermaßen flexibel und richtet sich nach Umweltfaktoren. Zum Beispiel gilt, dass das Bedürfnis nach Abstand größer wird, je dunkler die Szenerie ist (Adams a. Zuckerman 1991). Eine Studie aus dem Jahr 1980, die das Bedürfnis nach persönlichem Raum bei Erwachsenen bei Krankenhausaufenthalten untersuchte, ergab, dass in dieser Umgebung der bevorzugte zwischenmenschliche Abstand geringer war als zu Hause (Geden a. Begeman 1981). Es wurde auch nachgewiesen, dass ein verwandtschaftliches oder freundschaftliches Verhältnis zum Gegenüber die persönlichen Grenzen beeinflusst. In der gerade erwähnten Studie sollten die Patienten Stellvertreter anderer Personen neben ihre eigene Silhouette stellen. Sie positionierten Familienmitglieder am nächsten zu sich selbst und platzierten in zunehmendem Abstand den Arzt, die Krankenpflegerin und, am weitesten entfernt, einen Fremden.

      Das Gefühl für den benötigten Raum ist ein wichtiger Faktor, den man beachten sollte, wenn man Kontakt und Rapport herstellt. Zum Glück werden die Forschungsarbeiten ständig fortgeführt. Ein Beispiel dafür ist die experimentelle Studie von Lawrence E. Williams und John A. Bargh an der Yale University. Beide fanden heraus, dass das jeweilige Gefühl von Distanz einer Person deren emotionale Intensität von Stimuli abschwächen kann (Williams a. Bargh 2008). Außerdem können der Studie zufolge Gefühle emotionaler Distanz von natürlichen Zeichen oder Signalen in der Umgebung hervorgerufen werden, die keinen Bezug zu einem selbst haben. Mit anderen Worten: Allein die räumlichen Beziehungen zwischen Objekten in der Umgebung können beeinflussen, wie jemand die Situation und Interaktion beurteilt.

      Wenn Sie sich mit jemandem unterhalten, rücken Sie dann Ihrem Gegenüber auf die Pelle, oder halten Sie auf Armeslänge Abstand? Brauchen Sie Raum zum Atmen, oder bevorzugen Sie es, mit dem anderen während einer Interaktion Schulter an Schulter zu stehen? Das Bedürfnis nach Raum und die entsprechenden Vorlieben variieren von Mensch zu Mensch. Die Balance zwischen Nähe und Abstand zum Patienten (oder einem anderen Kommunikationspartner) bestimmt in großem Maße den Verlauf einer Interaktion. Die meisten finden ein Gleichgewicht und passen sich im Gespräch an für beide Partner akzeptable Distanzen an. Doch wie man im Fallbeispiel 2 gesehen hat, sind einzelne in ihrer jeweiligen Präferenz sehr fixiert und können sich kaum an die des anderen angleichen. Das Unbehagen bei zu großer Nähe kann im Extremfall sogar die Ausübung des Berufs verhindern. Im Falle unseres eingangs beschriebenen Kollegen hatte seine Unfähigkeit, Nähe auszuhalten, negative Auswirkungen auf die professionelle Effektivität und verunsicherte manchmal die anderen.

      Wie gut auch immer ein Mensch sich automatisch an die Bedürfnisse seines Gegenübers nach persönlichem Raum anzupassen vermag, unter Stress wird diese Fähigkeit wahrscheinlich geringer sein. Bei Begegnungen im medizinischen Kontext fühlen sich Patienten normalerweise gestresst. Infolgedessen können sie das Bedürfnis der medizinischen Fachkraft nach persönlichem Raum weniger gut unbewusst erkennen und ihm entsprechen. Als Regel sollte hier deshalb gelten: Der Patient bestimmt die Art der Interaktion, und die medizinische Fachkraft passt sich an, damit schnell Rapport hergestellt werden kann. Wichtig ist dabei, seine eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu lernen, den Bedürfnissen des Gesprächspartners zu entsprechen.