Elvira Lang

Sedieren ohne Medikamente


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verstrich, wurde es offensichtlicher, dass das Leben von Mutter und Kind verloren war, wenn nicht bald etwas passierte.

      Bis zu diesem Punkt hatte Frau B. nur ungläubig zugesehen und darauf gewartet, dass jemand eingreift und der schrecklichen Situation ein Ende bereitet. Sie hatte überlegt, eine Hypnose vorzuschlagen, zögerte aber. Denn sie hatte keine Ahnung, was das medizinische Team von Hypnose hielt oder wie die Beteiligten auf ihren Vorschlag reagieren würden. Die Minuten vergingen. Während im Operationssaal das Chaos um die Patientin tobte, kämpfte Frau B. mit ihren Selbstzweifeln, ob sie die schnellen Hypnosetechniken vorschlagen sollte, die sie in den Trainingsstunden bei uns gelernt hatte. Vielleicht würde ihr niemand zuhören. Würde sie die Patientin in einer Situation, die so weit außer Kontrolle geraten war, zur Mitarbeit anregen können? Frau B. wusste nur zu gut, dass sie ihr Gesicht und ihre Glaubwürdigkeit verlieren könnte, wenn sie eine Hypnose versuchen und dabei scheitern würde. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings klar, dass niemand sonst einen Schritt nach vorne wagen und die Krise beenden würde. Eine Hypnose ist vielleicht unsere letzte Hoffnung, dachte sie. Frau B. wusste, dass sie die Hypnosetechniken gut erlernt hatte. Als sie innerlich zu dem irgendwie tröstlichen Schluss gekommen war, dass alles wohl nicht schlimmer werden kann, fand sie das Selbstvertrauen zu handeln. Sie trat an den Operationstisch heran.

      Frau B. sagte den Fachkräften mit fester Stimme, sie könne vielleicht helfen und müsse nur ein paar Minuten mit der Patientin reden. Alle schauten sie an, und zu ihrer Verwunderung ließen sie sie nach vorne, neben den Kopf der Patientin. Die war völlig außer sich, schrie, weinte und brüllte vor Angst und Schmerz. Frau B. atmete tief ein und fing an: »D., hören Sie mir zu, ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wir werden beide zusammenarbeiten, und Sie werden das Ganze gut hinter sich bringen. Alles, was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie mir gut zuhören. Sind Sie bereit?« Die Patientin sah Frau B. ängstlich an. »Atmen Sie tief ein« – die Patientin wurde still und atmete ein – »und lassen Sie alles heraus, so ist es gut. Und noch ein tiefer Atemzug.« Die Patientin hörte Frau B. aufmerksam zu und folgte ihren Anweisungen. »Es ist alles in Ordnung, Sie sind jetzt in Sicherheit«, sagte sie, »ich werde Ihnen helfen, diese Geschichte zu überstehen, konzentrieren Sie sich nur auf Ihren Atem, atmen Sie ein … und aus …« Der Operationssaal füllte sich mit Stille. Alle schauten zu und warteten, was als Nächstes geschieht. Die Patientin atmete gleichmäßig, ihr Körper entspannte sich langsam, ihr Impuls, zu schreien und zu kämpfen, ließ vollständig nach, und ihr Blutdruck und Herzschlag normalisierten sich. Frau B. leitete die Patientin nun an, sich vorzustellen, sie ginge nach Hause zu ihrer Hängematte am Strand, an einen ihr vertrauten, angenehmen Ort. Sobald sich die Patientin vorstellte, zu Hause angekommen zu sein, sagte Frau B., sie solle sich auf die Wellen und den blauen Himmel an diesem Lieblingsort konzentrieren. Ganz einfach, nichts Besonderes, nur das Vertraute und Sichere.

      Nach einigen Minuten auf dem Weg in die Hypnose nickte Frau B. den Chirurgen zu, nun weiterzumachen. Diese traten behutsam nach vorne, um die Operation zum Abschluss zu bringen. Jeder im medizinischen Team beobachtete still, wie der Arzt sich dem Bauchschnitt näherte, um endlich das Baby in Empfang zu nehmen. Die Patientin bewegte sich nicht und lauschte nur der Stimme von Frau B. Welch unfassbare Erleichterung! Innerhalb von 20 Minuten beendeten die Ärzte behände den Kaiserschnitt, während die Patientin in tiefer Hypnose förmlich durch die Operation »schwebte«. Der Eingriff verlief erfolgreich, und Mutter und Kind erholten sich beide rasch und vollständig. Das medizinische Team brachte seine Bewunderung und seinen tiefen Respekt für Frau B. und ihre Arbeit zum Ausdruck. Am nächsten Tag war die Mutter Frau B. für ihre heroische Intervention so dankbar, dass sie ihre neugeborene Tochter nach ihr benannte.

      (Fallnotizen von E. Lang)

      Was dieser Fall zeigt: Wissen und Fähigkeiten sind nötig und wichtig, reichen allein aber nicht aus, damit man effektiv arbeitet. Genauso wichtig ist es, das Vertrauen und die Zuversicht zu haben, das Wissen in die Tat umzusetzen. Es hilft niemandem zu wissen, was zu tun ist, wenn man Angst davor hat, dieses Wissen auch anzuwenden.

      Vertrauen oder Zuversicht ist die Erwartung eines positiven Ergebnisses. Von Ihrem ersten Fall an ist es wichtig, mit Vertrauen und Selbstvertrauen aufzutreten und entschlossen zu sein, das anzuwenden, was Sie über die Sedierung von Patienten ohne Medikamente gelernt haben. Zögern Sie Ihre erste Anwendung nicht heraus, bis der »perfekte« Fall daherkommt. Nutzen Sie vielmehr die erstbeste Gelegenheit, Ihre Fähigkeiten anzuwenden, egal ob der Patient relativ ruhig oder die Situation schon so kritisch ist, dass Sie fühlen, »dass sie gar nicht mehr schlimmer werden kann«. Allein die Tatsache, dass Sie nach vorne treten und handeln, weckt die Erwartungen eines positiven Resultats. Und diese positiven Erwartungen werden ausnahmslos zu selbsterfüllenden Prophezeiungen. Tritt man in einem Fall mit Vertrauen und Zuversicht auf, so verstärkt dies das (Selbst-)Vertrauen weiter; das wiederum vergrößert das Vertrauen beim nächsten Fall und so weiter. Dadurch wird im Verlauf das Vertrauen auf natürliche Weise gestärkt, und das führt zu immer größerem Erfolg.

      Rosabeth Moss Kanter von der Harvard Business School hat die Wirkung des (Selbst-)Vertrauens auf Erfolgsserien von Sportteams, im Businessbereich und sogar von ganzen Nationen ausführlich erforscht (Moss Kanter 2004). Sie definiert (Selbst-)Vertrauen als »den optimalen Punkt zwischen Arroganz und Verzweiflung«, zwischen »der selbstgefälligen Annahme der eigenen Unverwundbarkeit« und der »Unfähigkeit, seine eigenen Stärken zu erkennen« (ebd., S. 8 Übers. d. Verf.). Begegnet man Patienten mit übermäßigem Vertrauen in den eigenen akademischen Titel und seine Zeugnisse und Zertifikate, macht aber keinen Versuch, wirklich Kontakt, eine echte Verbindung oder, fachsprachlich, Rapport zu ihm oder ihr herzustellen, ist das genauso kontraproduktiv, als wenn man sich so unsicher fühlt, dass man gar nicht handelt und deshalb Patienten die Hilfe vorenthält, die sie am nötigsten brauchen.

      Moss Kanter postuliert, dass Vertrauen und Zuversicht einen festen Grundstock mit drei Ecksteinen erfordert:

       Ein Eckstein ist die Verantwortung – Sie haben die Wissensbasis erworben, Fähigkeiten entwickelt und wissen, dass Sie in einer bestimmten Situation Verantwortung für Ihr Verhalten und Ihre Leistung übernehmen können.

       Ein zweiter Eckstein ist Zusammenarbeit – Sie sind kein Einzelkämpfer, sondern helfen anderen, etwa Ihren Patienten, dabei, dass die ihr Bestes erreichen.

       Der dritte Eckstein des Vertrauens ist Initiative – er kombiniert die Maßnahmen, die Sie in einer bestimmten Situation ergreifen, mit dem Gefühl der Verantwortung für und der Kontrolle über diese Maßnahmen.

      Vertrauen und Zuversicht sind ansteckend. Wenn Sie mit Zuversicht handeln, kann das das Vertrauen anderer wecken. Roland Neumann und Fritz Strack von der Universität Würzburg haben in verschiedenen Experimenten gezeigt, dass im Zuhörenden automatisch eine identische emotionale Stimmung entsteht, wenn er oder sie dem Ausdruck der Gefühle einer anderen Person zuhört (Neumann a. Strack 2000).

      Die Sache mit dem Vertrauen gilt auch für den Patienten. Es ist wichtig, dass Sie das Vertrauen Ihres Patienten durch Ihren eigenen Ausdruck von Vertrauen fördern; das schließt Ihre Körperhaltung, den Inhalt und die Stimmlage Ihrer Aussagen mit ein. Sie sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass ein Patient vielleicht noch keine Erfahrungen mit Hypnose gemacht hat oder diese bisher nur von Bühnenshows oder Mystery-Thrillern kennt. Nehmen Sie sich also Zeit, um Patienten zu helfen, realistische Erwartungen in Bezug auf den Ablauf der Hypnoseerfahrung zu entwickeln.

      Schließlich führt Vertrauen auch zu mehr Vertrauen des medizinischen Teams. Medizinische Fachkräfte, denen die überzeugenden Ergebnisse der klinischen Studien über die Sedierung ohne Medikamente vertraut sind, können diese Techniken voller Vertrauen und Zuversicht anwenden. Wenn sie das tun, haben die Mitglieder ihres Teams ihrerseits Vertrauen in den Experten wie in die Anwendung der Hypnose.

      Das Vertrauen in die Techniken, die in diesem Buch gezeigt werden, beginnt mit dem Wissen darüber. In einer Pilotstudie und drei großen prospektiven, randomisierten Studien