Skurril fanden wir es, als wir hörten, dass jemand Angst vor Müllcontainern hatte, aber das ist seit dem Frühjahr 2020 vorbei. Wir hätten uns schließlich auch nie vorstellen können, dass es eine Angst geben könnte, nicht genügend Toilettenpapier zu besitzen. Alles ist möglich.
Auch die körperlichen und emotionalen Reaktionen auf Angst sind vielfältig. Was geschieht nicht alles in uns, wenn wir Angst haben. Der Herzschlag wird schneller, der Blutdruck steigt, unsere Atmung verändert sich, die Muskeln verspannen sich, wir bekommen Mundtrockenheit oder Übelkeit mit Druck in der Magengegend bis hin zum Erbrechen, wir zittern, wir schwitzen und bekommen Schweißausbrüche, unsere Nerven kribbeln. Weiterhin verengen sich unsere Pupillen, unser Blick wird enger, die Stimme zittriger, wir weinen und müssen ständig zur Toilette bis hin zum quälenden Durchfall. Uns kann schwindelig und schwarz vor den Augen werden und manche fallen gar in Ohnmacht. Auch unser Denken ändert sich unter Angst und in unserem Kopf wird es völlig verrückt. Unsere Gedanken kreisen um das Problem, wiederholen es wieder und wieder, grübeln, unsere Kreativität und logisches Denken verschwinden, unser sexuelles Interesse erlahmt gedanklich und körperlich, ein Gefühl der Ausweglosigkeit und Entsetzen macht sich breit, wir sind angespannt und reizbar. Auch hektische Betriebsamkeit und Ruhelosigkeit helfen uns nicht, und wenn dies alles zu lange anhält, können wir irgendwann nicht mehr. Es kommt zu Einschlaf- und Durchschlafstörungen, zu völliger Erschöpfung, wir ziehen uns aus der Umwelt zurück, ziehen die Bettdecke über den Kopf, essen zu viel oder zu wenig, trinken Alkohol oder greifen zu Psychopharmaka. Eventuell erfolgt eine Depression. Warum das nur alles? Das sind doch Reaktionen, die wir gar nicht wollen, die uns nicht guttun. Was soll das, warum reagieren wir so?
Da die Evolution selten auf Dauer Unsinniges bestehen lässt, muss diese Vielfalt an Reaktionen irgendeinen Sinn haben. Versuchen wir einmal, tiefer hinter das Geheimnis der Angst zu schauen.
Um die Vielfalt zu verstehen und den Sinn hinter all dem zu erkennen, müssen wir erst einmal klären, wie die Angst im Laufe der Evolution entstanden ist und wofür sie eigentlich da ist. Damit können wir dann im Umkehrschluss auch analysieren, wann Angst kein guter Ratgeber ist. Und all das führt uns dabei immer wieder zu den vielen Merkwürdigkeiten der Coronazeit. Dazu werden wir die Vielfalt der Angstformen und unsere Reaktionen zu einem kohärenten System zuordnen, das es uns ermöglichen kann, Ängste verstehen und überwinden zu lernen. Und so können wir schließlich die Coronazeit überstehen und Lösungen dafür finden, wie wir aus diesem ganzen Angstgeschehen herauskommen und es erreichen können, dass so etwas nie wieder geschehen kann.
Gehen wir einmal ganz weit zurück. Unsere Vorfahren lebten über Jahrmillionen in einer nicht ungefährlichen Umwelt. Mit einer Körpergröße von nur etwas über einem Meter waren unsere Ahnen in Afrika vor drei Millionen Jahren, wir nennen sie Australopithecus, eine beliebte Beute von Löwen, Leoparden und anderen Raubtieren. In der Psychologie wird oft das Beispiel des Säbelzahntigers bemüht, der war aber gar nicht so relevant und wurde wohl sogar vom Menschen später ausgerottet. Es gab viele andere Raubtiere, die dem Menschen gefährlicher waren. Selbst als Homo habilis und Homo erectus, unsere nachfolgenden Vorfahren, an Gehirn- und Körpergröße zunahmen und das Feuer zu beherrschen gelernt hatten, war das Leben risikohaft. Mit einfachen Lanzen auf Jagd zu gehen, konnte leicht eigene Verletzungen mit sich bringen. Noch im Mittelalter kamen viele Jäger zu Tode oder zu schweren Unfällen, die versuchten, mit einem Sauspieß ein Wildschwein zu erlegen. In südlicheren Ländern kamen Gefahren durch giftige Tiere hinzu, Skorpione, Spinnen und Schlagen etwa. Das Herunterfallen von einem Baum oder Felsen mit Knochenbrüchen konnte ebenfalls den Tod bedeuten. Da machte es in der langen Evolutionsgeschichte Sinn, eine angeborene Empfindung zu besitzen, die vor solchen Gefahren warnte. Die Angst.
Ebenso machte es Sinn, angeborene Lösungsmöglichkeiten zu besitzen, um diesen Gefahren zu entkommen. Natürlich geht das durch den Verstand, doch unser Denken ist verhältnismäßig langsam. Viel schneller arbeiten unser Unterbewusstsein und unsere Reaktionen. Und Schnelligkeit kann Leben retten. Wenn wir etwa stolpern und hinfallen, liegen wir schon auf der Nase, bevor wir bewusst nachdenken können, was eigentlich geschehen ist. Glücklicherweise hat unser Körper automatisch reagiert und uns so hinfallen lassen, dass uns meist nichts passiert ist. „Fall nicht hin“, sagen wir häufig sorgenvoll zu kleinen Kindern. Aber sie fallen dennoch immer wieder und meist geschieht ihnen nichts. So üben sie diese automatischen Körperreaktionen bis zur Perfektion. Erst im Alter, wenn unsere Muskeln und Gelenke nicht mehr so beweglich sind, können sie nicht mehr so flink die automatischen Befehle des Unterbewusstseins ausführen. Dann kommt die Zeit der Knochenbrüche, insbesondere der Oberschenkelhalsbrüche. Grundsätzlich sind unsere angeborenen und automatischen Reaktionsweisen in Gefahrensituationen jedoch eine gute Sache für unser Leben und unsere Gesundheit bis ins hohe Alter.
Begeben wir uns zurück in eine Zeit, in der unsere Vorfahren noch als Steinzeitmenschen in den Savannen Afrikas lebten. Oder noch weiter zurück, als wir als kleine mäuseartige Säugetiere in einer von Dinosauriern beherrschten Welt überleben wollten. Vielleicht noch weiter zurück als kleines Tier, das einmal der Vorfahr aller Wirbeltiere werden würde. Was hatten diese Wesen nun für ein Rüstzeug, um aus Gefahrensituationen lebend davonzukommen? Was konnten sie tun? Nun, die Evolution hat uns gleich mit drei Strategien ausgestattet. Dreifach hält halt besser. Es sind Flucht, Angriff und Erstarrung.
2.1 Flucht
Wir sind ein Steinzeitmensch, vielleicht ein kleiner Homo habilis, der vor eineinhalb Millionen Jahren in der ostafrikanischen Serengeti lebte.37 Mit einem Stock und einem Faustkeil bewaffnet, ziehen wir durch die Savanne, um kleine Tiere zu erbeuten, vielleicht ein Erdferkel oder ein langsames Stachelschwein. Nebenbei sammeln wir und unsere Familienangehörigen Pflanzen und Früchte und suchen nach Aas. Da! Hinter dem Felsen bewegt sich etwas, vielleicht ein kleiner Klippschliefer, eine leckere Beute. Doch nein. Schrecken. Plötzlich und unverhofft starrt uns ein Leopard ins Gesicht, nur zwei Meter vor uns. Seine großen stechenden Augen fixieren uns. Seine starken Muskeln sind zum Sprung bereit, seine weißen großen Reißzähne leuchten uns entgegen. Höchste Gefahr. Lebensgefahr, wir sind dem Tode nahe. Jetzt muss alles ganz schnell gehen; sonst werden wir gefressen.
Was geschieht nun in uns? Angst. Panische Angst. Es gibt nichts anderes mehr als Angst. Denn nur sie kann nun unser Leben retten. Wir denken nicht, das macht unser Unterbewusstsein nun allein. Es checkt ab, ob wir die Gefahrensituation meistern können. Nein, können wir nicht, ist die Entscheidung in Bruchteilen einer Sekunde. Der Leopard ist stärker als wir. Also läuft automatisch unsere erste Bewältigungsstrategie für Angst an, die Flucht.
In Mikrosekundenschnelle drehen wir Steinzeitmensch uns um und laufen mit aller zur Verfügung stehender Kraft von dem Leoparden davon. Wir laufen schneller als jemals zuvor in unserem Leben. Denn die Angst schaltet unseren ganzen Körper auf dieses einzige Ziel der Flucht. Alle Energiereserven werden freigeschaltet. Adrenalin strömt in unsere Muskeln, sodass wir noch schneller werden. Je leichter wir sind, desto mehr Geschwindigkeit bekommen wir. Also alles raus. Heute würden wir uns in die Hose machen, aber damals liefen wir nackt umher. Das kennen wir heute noch, etwa wenn wir vor einer Prüfung noch schnell zur Toilette müssen, obwohl wir kaum etwas getrunken haben. Oder wenn sich dann plötzlich noch Durchfall einstellt. So blöd das für uns heute ist, für uns als Steinzeitmensch damals erhöhte es die Überlebenswahrscheinlichkeit. Wenn der Magen noch gefüllt ist, kann auch ein Erbrechen Sinn haben. Schlussverkauf, alles muss raus, oben und unten. Leichter werden, schneller werden.
Wer schnell läuft, darf nicht überhitzen, benötigt Kühlung. Also beginnen wir zu schwitzen, Schweiß läuft über den ganzen Körper und kühlt uns. Der Blutdruck muss steigen, ebenso der Puls, um die Muskeln mit genügend Sauerstoff versorgen zu können, den wir durch heftiges Atmen hereinhecheln. Denken hilft bei der panischen Flucht nicht, einfach weg, ist die Devise. Ach, wenn uns dies heute nur nicht bei Prüfungen geschehen würde. Angst in der Prüfung und schon kommt der Blackout und wir wissen nichts mehr von dem, was wir so intensiv gelernt hatten und genau wussten. Hier kommt es her. Denn als die Angst entstand, hatte sie den Sinn, das Überleben zu sichern, von Prüfungssituationen wusste sie noch nichts. Aber da holt sie uns dann heute leider manchmal ein.
Als Steinzeitmensch durften wir nicht eingeholt werden. Wir rennen und rennen, so schnell wie nie, so lange wie nie. Irgendwann sagte uns dann