Jürgen Wächter

Angst im Systemwechsel - Die Psychologie der Coronazeit


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„Maus“ und „Angst“ miteinander im Kind verknüpft. Vielleicht erklärt die Mutter noch, dass Mäuse beißen können, oder stellt eine Falle auf oder eine ähnliche Situation wiederholt sich. Am Ende speichert das Kind ab: Maus = Gefahr. Und diese Konditionierung kann lebenslang erhalten bleiben. Eine Bekannte hat selbst mit 82 Jahren noch Angst vor Mäusen und diese Angst hatte sie selbstverständlich so oder ähnlich an ihre Tochter weitergegeben, die einmal panikartig aufschrie, als im Garten ein kleines Mäuschen über ihren Fuß gelaufen war. Für mich eine lustige Situation, für sie ein großer Schrecken. Gelernte Angst.

      So wie vor Mäusen können wir lernen, vor allem Möglichen Angst zu bekommen, vor Spinnen, Ratten, Schlangen, Zahnärzten, Weihnachtsbäumen oder auch vor Müllcontainern oder Coronaviren. Ängste, die sich auf spezielle Objekte beziehen, nennen wir Phobien. Alle Dinge sind möglich, angstbesetzt zu werden. Aber nicht nur Dinge, auch für alle denkbaren Situationen kann Angst gelernt werden, sowohl von anderen Menschen als auch durch eigenes Erleben.

      Wird ein kleiner Junge von einem Pferd getreten, kann er lebenslang eine Abneigung gegen diese Tiere haben, vielleicht als Erwachsener sogar, ohne noch zu wissen, dass er einmal getreten wurde. Ein Pferdebild im Augenwinkel kann zum Trigger werden und aus ihm unerklärlichen Gründen taucht Angst auf. Ein heftiges Anschreien eines Kindes von einer blonden Frau kann dazu führen, dass der Erwachsene später nur auf brünette oder schwarzhaarige Frauen steht. Wird die Mutter bei Gewitter ängstlich, weil sie das an den Bombenhagel im Weltkrieg erinnerte, übernehmen Kinder das möglichweise und meiden Gewitter selber und geben das vielleicht sogar an ihre Kinder weiter, sodass ein Angstverhalten über Generationen fortgesetzt werden kann. Sagt der kriegsbeeinflusste Vater ständig, dass es nur zu Hause sicher ist und in der Welt draußen ungeahnte Gefahren lauern, bekommen wir vielleicht eine Agoraphobie, also eine Angst, uns allein zu weit vom eigenen Heim zu entfernen. Wir können dann z. B. nicht allein in den Urlaub fahren.

      Die Zahl der Ängste, die wir erlernen können, ist somit unbegrenzt. Und jeder Mensch hat andere Ängste in unterschiedlicher Stärke. Was dem einen Angst macht, macht dem anderen keine. So genießt die eine Frau die weiten Blicke vom Aussichtsturm, während ihrer Wanderbegleiterin so ein Turm die Angst hochschnellen lässt. Darauf klettern? Niemals. So wartet sie derweil lieber unten.

      Wirklich ganz frei von Ängsten sind wohl nur die allerwenigsten. Wir allein erfahren unterschiedlichste Prägungen in der Kindheit, erlernen Muster, wie wir handeln sollten, übernehmen Bewertungen von Situationen von anderen, machen Erfahrungen und verinnerlichen Ängste der Eltern.

      Diese jeweiligen Ängste hindern uns, uns frei ausleben zu können. Sie schränken uns ein, indem wir manche Dinge nicht tun, weil da diese Angst ist. Wir vermeiden solche Situationen. Der schwedische Drehbuchautor Ingmar Bergmann sagte einmal: „Es gibt keine Grenzen, weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“

      Wir hatten schon gesehen, dass der eine vor Dingen Angst hat und die andere vor den gleichen Dingen nicht. Sogar auf den Leoparden reagierten die Steinzeitmenschen ja, wie wir gesehen haben, unterschiedlich. Angst ist also immer sehr persönlich, subjektiv. Es liegt an unserem eigenen Denken, ob wir in der kleinen Maus ein Kuscheltier oder eine fürchterliche Gefahr sehen. Somit entstehen Ängste durch unser Denken. Denken wir, dass wir alles beherrschen, kommt keine Angst auf. So geht der Dompteur frei und selbstbewusst in den Tigerkäfig und die Tiger führen ihre Zirkusdressur vor. Ginge dort jemand hinein, der sich den Tieren nicht gewachsen fühlt, bricht Angst aus. Und die würden die Tiger auch bemerken und losfauchen, wenn nicht Schlimmeres tun. Unser Denken ist das Entscheidende, ob wir Angst bekommen, zumindest, ob wir nach einem Schrecken in Angst bleiben oder wir uns wieder fangen und souverän reagieren.

      In uns läuft jedes Mal eine Kette von Geschehnissen ab:

      1. Wir geraten in eine bestimmte Situation.

      2. Wir bewerten die Situation danach, ob wir sie bewältigen können oder nicht. Und dies machen wir nicht unbedingt mit logischem Denken, sondern oft sehr subjektiv, emotional und intuitiv.

      3. Das entsprechende Gefühl kommt auf. Angst (oder vielleicht Wut, Langeweile, Uninteressiertheit, Freude oder andere Empfindungen).

      4. Wir reagieren auf Angst mit den drei Möglichkeiten der Flucht, des Angriffs oder der Erstarrung. Wenn wir es schon gelernt haben, können wir aber auch souverän bleiben und dann mit dem Großhirn entscheiden, wie es weitergeht.

      5. Eine oder mehrere der drei Angstreaktionen können zu einem dauerhaften Verhalten werden.

      Auch andere Naturgefahren bestehen heute kaum noch. Hohe Felsen sind meist durch Schilder, Schutzzäune und Sicherungsmaßnahmen ungefährlich geworden und bei Dunkelheit können wir einfach auf den Lichtschalter drücken. Da bräuchte es ja eigentlich die Angst gar nicht mehr, wäre sie lediglich eine Emotion für akute Lebensgefahr.