Dämonischen wieder. Herders Entdeckung der Geschichtlichkeit (vgl. Kap. 5a) entwickelte sich in der Nachfolge der erwähnten Romane von Wackenroder, Tieck und Hardenberg zu einer allgemeinen Geschichtsverklärung des deutschen Mittelalters. Und Herders Hinwendung zum mutmaßlichen Ursprung der Poesie in der Sammlung schlichter Volkslieder setzte sich nun in Sammlungen von Märchen, Sagen und Volksbüchern fort.
Im Gegensatz zu dem weltbürgerlichen Idealismus der Aufklärer und Klassiker aber nahm das aufkeimende Geschichts- und Volksbewusstsein der Romantiker unter dem politischen Druck der Napoleonischen Fremdherrschaft bald einen stark patriotischen Zug an. Die Hochschätzung religiöser und nationaler Ideen führte die Romantiker zur Anerkennung der starrsten Institutionen von Kirche und Staat, führte zur Konversion und, nach den Befreiungskriegen (1813–15), zur politischen Restauration. Im November 1815 zog Friedrich Schlegel, vom Papst mit dem Christusorden ausgezeichnet und von Metternich (1773–1859) zum kaiserlich-königlichen Legationsrat ernannt, in den Frankfurter Bundestag ein. Nur wenige Dichter vertraten mutig wie Ernst Moritz Arndt (1769–1860) und die Brüder Grimm eine liberalere politische Gesinnung.20
Ein führender Kopf im Kreise der Heidelberger Romantiker war CLEMENS BRENTANO (1778–1842). Als Sohn aus der kinderreichen Ehe des Frankfurter Kaufmanns Pietro Antonio Brentano mit Goethes Jugendfreundin Maximiliane La Roche war Clemens Brentano ein Enkel der ersten deutschen Romanschriftstellerin Sophie La Roche (vgl. Kap. 5d mit Anm. 17 und Kap. 4d). Dieser Enkel Clemens betrat 1801 die literarische Bühne mit dem »verwilderten Roman« Godwi, einer stimmungsvollen, ironischen Erzählung, die so verworren ist wie Jean Pauls Titan (vgl. ↑) und so vielschichtig wie Tiecks Märchendrama Der gestiefelte Kater (vgl. ↑).
Größeren Ruhm errang Brentano durch die Sammlung deutscher Volkslieder, die er 1805 zusammen mit seinem Freund und künftigen Schwager ACHIM VON ARNIM (1781 bis 1831)21 unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn herauszugeben begann. Der erste Band dieser durch Herders Volkslieder (1778–79) angeregten Sammlung ist Goethe gewidmet, der, in Erinnerung an seine eigene Sammlertätigkeit in Straßburg, freundlich urteilte: »[…] das hie und da seltsam Restaurierte, aus fremdartigen Teilen Verbundene, ja das Unterschobene ist mit Dank anzunehmen.« Die Brüder Grimm allerdings, die den letzten Band bearbeiteten und deren man gern als Begründer der Germanistik gedenkt, urteilten anders. Sie lehnten das Ipsefact, das selbstverfasste und unterschobene Lied, als Fälschung der Überlieferung ab. Doch wie auch immer, für den Benutzer gilt, was Heine 1833 im Pariser Exil schrieb: »Dieses Buch kann ich nicht genug rühmen, es enthält die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes, und wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennen lernen will, der lese diese Volkslieder.«22
Brentano hat sich auch mit Volksmärchen beschäftigt, jedoch nicht in der Absicht, eine ordnende Sammlung zu schaffen. Die seit 1811 bearbeiteten und postum erschienenen Rheinmärchen (1846) sind eine verschachtelte, von Episode zu Episode fortschreitende, freie Entfaltung und Umformung bekannter Märchenmotive. Das Eigentümliche dieser Fabulierkunst lässt sich auch gut an dem Kunstmärchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838) beobachten. In der Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817) mischt Brentano in der für die Spätromantik charakteristischen Weise realistische und märchenhafte Elemente zu einer ergreifenden Schicksalsnovelle. – Allen diesen Erzählungen gemeinsam ist eine wohlklingende musikalische Sprache, denn Brentano war ein hervorragender Lyriker, der es verstand, volksliedhafte Motive und Töne in kunstvolle Klanggebilde romantischer Stimmungslyrik zu verwandeln. So z. B. in seinem berühmten Gedicht »Abendständchen«:
Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden wehn die Töne nieder –
Stille, stille, laß uns lauschen!
Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht.
Brentano, der nur wenige seiner romantischen Dichtungen selbst veröffentlichte, kehrte 1817 in den Schoß der katholischen Kirche zurück, schrieb in vierundzwanzig Bänden die Visionen einer stigmatisierten Nonne auf und führte danach ein unstetes Wanderleben.
Nicht als Dichter, sondern als Philologen waren die Brüder JACOB und WILHELM GRIMM (1785–1863 und 1786–1859) bahnbrechende Förderer der deutschen Sprache und Literatur. Denn sie kümmerten sich mit unermüdlichem Fleiß um die Sammlung und Herausgabe altdeutscher Texte, um Wörterbuch, Grammatik und Sprachgeschichte und legten damit den Grundstein zur deutschen Germanistik23. Doch die volkstümliche und weltliterarische Bekanntheit verdanken die Brüder Grimm ihrer Sammlung deutscher Kinder- und Hausmärchen (1812, 1815 und 1822), die nach der Lutherbibel das meistgedruckte Buch in deutscher Sprache sind.
Von Brentano und Arnim angeregt, hatten die Grimms 1806 mündlich überlieferte Märchen zu sammeln begonnen; doch anders als Tieck in seinen Volksmärchen (1797), anders als Arnim und Brentano, suchten die Gebrüder Grimm zumindest anfänglich eine »unverfälschte« Wiedergabe. In der Vorrede schreibt Wilhelm Grimm:
Wir haben uns bemüht, diese Märchen so rein, als möglich war, aufzufassen […]. Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden […]. In diesem Sinne existiert noch keine Sammlung in Deutschland, man hat sie [die Märchen] fast immer nur als Stoff benutzt, um größere Erzählungen daraus zu machen, die willkürlich erweitert, verändert, was sie auch sonst wert sein konnten, doch immer den Kindern das Ihrige aus den Händen rissen und ihnen nichts dafür gaben.
Dennoch muss gesagt werden, dass die trauliche, bezaubernde Sprachgebung letztlich ein dichterisches Verdienst Wilhelm Grimms ist.
Von der philologischen Leistung Jacob Grimms überzeugt ein Blick in das Deutsche Wörterbuch (erster Band 1854, vollendet 1961), das bis zum Artikel ›Frucht‹ von Jacob (Buchstabe D von Wilhelm) bearbeitet wurde.24
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Der im schlesischen Lubowitz geborene JOSEPH FREIHERR VON EICHENDORFF (1788–1857) war im Besitz dieser »Wünschelrute«. Lerchen, Nachtigallen, Waldesrauschen und Hörnerklang sind solche Zauberworte, mit denen er eine Welt aufruft, die sich, wenn der Mondschein durch vorüberziehende Wolken fällt und die Umrisse der Wirklichkeit in Zwielicht und Dämmerung verschwimmen, unversehens zum magischen Spiegel der Seele verwandelt. Eichendorffs einfache und innige Gedichte (1837) sind durch ihre volksliedhafte Verbreitung für viele Menschen zum Inbegriff der Romantik geworden;25 in den Vertonungen von Mendelssohn (1809–1847), Schumann (1810–1856), Brahms (1833–1897) und Wolf (1860–1903) haben sie das deutsche Lied weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinausgetragen. Man mag bedauern, dass Eichendorffs formelhafte Selbstwiederholungen so viele Epigonen ermuntert haben, deren Schablonen dem heutigen Leser gelegentlich das ursprüngliche Gedicht verstellen; doch die Verwendung von Topoi (vgl. Kap. 2, Anm. 4) gehört wesentlich zu Eichendorffs Dichtung. Nur ein Beispiel:
Der in den beiden ersten Gedichtzyklen »Wanderlieder« und »Sängerleben« oft anklingende und in dem Gedicht »Die zwei Gesellen« ausgeführte Gegensatz zwischen dem fahrenden Dichter-Sänger und dem philiströsen Spießer kehrt auch in den Erzählungen als ein Kernmotiv wieder; so in den Romanen Ahnung und Gegenwart (1815) und Dichter und ihre Gesellen (1834) und so auch in der Novelle Das Marmorbild (1819). Immer verlockt hier die Welt den aufgeschlossenen Menschen zu romantischen Abenteuern, in denen die Begegnung mit dem Dämonischen die Seele gefährdet. Wer aber das Wagnis scheut und in die bürgerliche Ordnung und Enge flüchtet, läuft Gefahr, als Spießer sein Leben zu versäumen. Dieser an den mittelalterlichen Dualismus erinnernde Zwiespalt zwischen Weltfreude und Weltflucht (vgl. Kap. 1c, besonders