Katrin Bentley

Allein zu zweit


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den Zoll ging, lächelte ich ihm unter Tränen noch einmal zu und sah ihn winken, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge. Während des Flugs versuchte ich mir klarzumachen, dass meine Hoffnung auf eine echte, tiefe Beziehung mit meinem grünäugigen Australier total unrealistisch war. Aber bald einmal gab ich auf, mich gegen meine Gefühle zu wehren, schloss die Augen und durchlebte in Gedanken noch einmal die wunderschöne Zeit mit Gavin.

      Später in der Schweiz versuchte ich, den hübschen, aufmerksamen, seltsam distanzierten Mann mit den ungewöhnlichen Augen erneut zu vergessen, aber es gelang mir nicht. Da sich meine Gedanken nur noch um meine Ferienliebe drehten, beschloss ich eines Tages, die Beziehung mit meinem Freund zu beenden. Gavin schrieb mir mindestens drei Briefe in der Woche, deren Inhalt mich tief berührte. Überrascht stellte ich fest, dass er seine Gefühle schriftlich viel besser ausdrücken konnte als mündlich. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, wie viel ich ihm bedeutete.

      »Ob du gesund bist oder krank, fröhlich oder traurig, wach bist oder schläfst, allein bist oder mit Freunden – ich werde immer für Dich da sein und Dir Liebe und Sicherheit geben.« Nie zuvor hatte ich solch wunderschöne Liebesbriefe erhalten. Mithilfe meines Wörterbuchs antwortete ich, und durch den regen Briefwechsel gelang es uns, unsere Beziehung aufrechtzuerhalten. Eines Tages schrieb Gavin, er habe jetzt genug Geld beisammen und könne für drei Monate in die Schweiz kommen. Ich freute mich unheimlich. Am 2. Juli 1987, zweieinhalb Monate nach unserer ersten Begegnung, holte ich meinen Traummann vom Flugplatz ab.

       5

      Als er die Treppe herunterkam, schlug mein Herz sofort schneller. Mit den blonden Haaren, den symmetrischen Gesichtszügen und seiner irgendwie ungewöhnlich perfekten Erscheinung erinnerte er mich nach wie vor an Barbies Ken. Er trug ein ärmelloses weißes T-Shirt, das seine muskulösen braunen Arme unterstrich, und hellblaue Jeans, die seine sportliche Figur betonten. Mit der lässig über die Schulter geschwungenen Tennistasche und dem distanzierten Gesichtsausdruck glich er mehr einem Tennisprofi oder einem Schauspieler als einem australischen Touristen. Sobald er durch den Zoll kam, fielen wir uns in die Arme. Ich war so glücklich, meinen liebevollen Freund wieder bei mir zu haben.

      Da die Primarschule Jegenstorf, an der ich nach meinem dreimonatigen Urlaub wieder unterrichtete, noch keine Ferien hatte, war ich tagsüber oft weg. Anfänglich machte ich mir Sorgen, dass Gavin sich allein zu Hause langweilen würde, aber das traf nicht zu, im Gegenteil: Er schien das Alleinsein zu genießen, musste er doch in Australien das Haus mit seinen drei Geschwistern und den Eltern teilen. Er saß auf dem Balkon, hörte Musik und erholte sich. Wenn ich heimkam, gingen wir in den Rapsfeldern spazieren oder spielten im Garten Badminton. Dann kochte ich und machte ihn mit verschiedenen Schweizer Gerichten bekannt. Raclette hatte er gern, aber Fondue mochte er nicht, musste man doch mit den Brotstücken im selben Käse herumrühren wie die anderen, und das fand er schrecklich unhygienisch.

      Meine Freunde besuchten Gavin hie und da, wenn sie freihatten. Einmal konnte er mit auf eine Velotour, ein anderes Mal nahm mein bester Freund ihn ein paar Tage mit auf eine Alphütte, wo er lernte, wie man Käse macht. Bei seiner Rückkehr überreichte er mir einen wunderschönen Blumenstrauß, den er selbst gepflückt hatte. Das war etwas Neues für ihn, als Australier war er sonst nicht so vom Blumenpflücken angetan, das war eher etwas für Mädchen. Aber da mein Freund für seine Frau einen Strauß gepflückt hatte, fühlte sich Gavin verpflichtet, auch mir ein paar Blumen zu bringen. Bis heute sind das die einzigen, die ich je von ihm erhalten habe. Er sieht den Zweck von Blumen nicht ein und sagt immer: »Die welken ja ohnehin nach ein paar Tagen.«

      An den Wochenenden fuhren wir oft an den See oder in die Berge. Gavin schien das zu genießen, am allerliebsten aber jagte er mich auf dem Tennisplatz herum. Immer wieder war ich erstaunt, wie lange er spielen konnte, ohne müde zu werden. Nach drei Stunden hatte ich mehr als genug, während er den Eindruck machte, problemlos mindestens noch einmal so lange weitermachen zu können. Bereits in der ersten Woche standen wir uns zum ersten Mal auf dem Tennisplatz des TC Thun gegenüber; anschließend wollte ich meiner Mutter meinen australischen Freund vorstellen. Nach drei anstrengenden Sätzen zeigte ich Gavin die Männergarderobe und machte mich unter der Dusche frisch.

      Als ich später ins Restaurant kam, hatte er sich noch immer nicht umgezogen. »Hast du vergessen, dass wir heute meine Mutter besuchen?«, fragte ich verwundert. »Nein«, antwortete er fröhlich, machte jedoch keine Anstalten, sich bereit zu machen. Als ich ihn fragte, ob er denn nicht duschen und etwas anderes anziehen wolle, entgegnete er gelassen: »Nein. Ich habe keine frischen Kleider mitgebracht, und ich mag Umkleideräume nicht.« Ich war ehrlich gesagt ein wenig schockiert, wäre es mir doch nicht in den wildesten Träumen eingefallen, ungeduscht und in verschwitzten Tenniskleidern die Eltern eines Freundes zu besuchen. Da ich die Situation jedoch nicht ändern konnte, reichte ich Gavin einfach mein Deo.

      Meine Mutter war bezüglich meiner Freunde meist sehr kritisch, von Gavin war sie jedoch von Anfang an begeistert. Sie lachte herzlich über seine Witze, während er seine Bewunderung für ihre Backkünste zeigte, indem er den Kuchen bis zum letzten Krümel aufaß. Ich war stolz auf meinen Australier und glücklich, dass er sich so gut mit meiner Mutter verstand. Beim Abschied schien sie sich nicht einmal mehr darüber zu sorgen, dass ich sieben Jahre älter bin als er. Sie fand ihn einfach intelligent, charmant, witzig und irgendwie harmlos naiv.

      Auch meine Schulkinder mochten Gavin, sie liebten seinen Humor und seine unerschöpfliche Energie. Gelegentlich nahm ich ihn mit in die Turnstunde, und wenn er sie beim Fangenspielen herumjagte, quietschten sie vergnügt. Es überraschte mich immer wieder, wie kindlich er sich dabei aufführte. Er war damals zwanzig Jahre alt, aber beim Herumtollen unterschied er sich kaum von meinen Erstklässlern, und nach einer Ballschlacht glänzten seine Augen genauso wie die der Kinder.

      Ich kannte viele Leute, und daher waren wir abends oft zum Essen eingeladen. Alle mochten Gavin, weil er sehr witzig und unterhaltend war. Machte er je einen unpassenden Kommentar, lachten sie einfach und dachten, so seien halt die Australier. Gavin war glücklich in seiner Rolle des lustigen Mannes aus Down Under. Er konnte mehr oder weniger machen, was er wollte. Wenn er barfuß in Shorts durchs Dorf ging, lächelten alle und sagten: »Das ist der Australier, der bei Frau Widmer wohnt.« Er hätte ohne weiteres in der Badehose einen Schneemann bauen oder kopfüber von einem Kronleuchter hängen können, die Leute hätten nur gedacht: Was diesem Australier nur wieder einfällt!

      Einmal holte mich Gavin von der Schule ab und kam ins Klassenzimmer, als ich mich gerade von der besorgten Mutter eines Schülers verabschiedete. Anstelle von »Goodbye« oder »Auf Wiedersehen« sagte er »Adios amigos« zu ihr. Eine plötzliche Stille füllte den Raum, war dies doch ein Abschiedsgruß, den man für Freunde oder Verwandte verwendet, aber nicht für Unbekannte. Die Mutter schien erst konsterniert zu sein. Dann fiel ihr wohl ein, dass Gavin kein Schweizer war, denn sie lächelte versöhnlich und zwinkerte mir zu. Einmal mehr glaubten wir, dass Gavin sich so ungewöhnlich verhielt, weil er Australier war.

      Auch mein Bruder mochte Gavins Humor und Unbeschwertheit. Eines Abends waren wir bei ihm und seiner Frau zum Abendessen eingeladen. Ursprünglich wollte ich eine gute Flasche Wein mitbringen, aber Gavin bestand auf einer großen Schachtel Schokoküsse. »Wein mag ich nicht«, erklärte er, »Schokolade schon.« In Australien war es damals nicht üblich, Gastgebern ein Geschenk mitzubringen. Vielmehr trug man etwas zum Essen bei, nahm zum Beispiel einen Salat oder ein Dessert mit. Ich war deshalb einverstanden. Aber als Gavin bereits im Zug ein paar Schokoküsse aß, war ich schockiert. Er lächelte nur nonchalant und meinte: »Sie werden uns die nachher ohnehin anbieten, warum soll ich dann nicht jetzt schon ein paar davon essen?« Am liebsten hätte ich die Schachtel versteckt und meinem Bruder nichts mitgebracht, aber Gavin wollte nichts davon wissen. Als er später meiner Schwägerin die Süßigkeiten überreichte, blieb mir keine andere Wahl, als mich einfach für die angebrochene Schachtel zu entschuldigen. Zu meiner Erleichterung fand mein Bruder das Ganze jedoch höchst witzig und lachte nur fröhlich.

      Als endlich Sommerferien waren, liehen wir uns von Freunden ein Zelt aus und fuhren zusammen nach Korsika. Es war wunderschön. Wir spielten Tennis, schwammen im Meer und gingen abends essen. Gavin war nach wie vor aufmerksam, aber ich wunderte mich