Perspektive kann der schon aufgezeigte Unterschied in der Benennung der Herrschaftsaufgabe in V 26 sowie in der konkreten Herrschaftsbeauftragung in V 28 signifikant sein, dass nämlich in V 26 die wilden Tiere nicht der Herrschaft der Menschen anvertraut werden, in V 28 hingegen schon (folgt man der oben dargelegten exklusiven Lesart). Das könnte bedeuten, dass hier der biblische Autor wiederum eine urmenschliche Erfahrung verarbeitet, nämlich: Der Mensch kann sich de facto manche Tiere nicht zu Nutze machen, da sie nicht domestizierbar sind (V 26), er muss aber zum Schutz der Nutztiere die Angriffe von wilden Tieren abwehren oder kann durch die Urbarmachung von Wildnis auch mit den Wildtieren in Konflikt geraten, weil er ihnen ihren Lebensraum streitig macht (V 28). Keinesfalls bedeutet der Herrschaftsauftrag nun einen Freibrief für ein willkürliches Eingreifen in die Natur oder für einen verantwortungslosen Umgang mit Tieren. Gegenüber den Tieren kommt dem Menschen zwar eine „gattungsspezifische Macht- und Intelligenzüberlegenheit“47 zu, aus den asymmetrischen Machtverhältnissen ergibt sich aber die Verantwortung, diese so zu gestalten, dass die Erde als Lebensraum für alle Lebewesen bewahrt und das Leben der Tiere geschont und geschützt wird. Abschließend ist noch daran zu erinnern, dass im Kontext des Alten Testaments das Herrschen mit der fürsorglichen Verantwortung eines Königs für das Wohlergehen seines Volkes und die umsichtige Sorge eines Hirten für die ihm anvertraute Herde konnotiert ist.
1.3 Die Stellung des Menschen in der Schöpfung aus verantwortungsethischer Perspektive
An dieser Stelle soll die Frage nach dem Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen erneut aufgegriffen werden. Weiter oben wurde bereits herausgearbeitet, dass es dabei nicht in erster Linie um die Frage geht, was die Menschen von den Tieren unterscheidet oder ob der Mensch Höhepunkt, ja sogar Ziel der Schöpfung sei – beides ist im Hinblick darauf, dass die Schöpfung erst am siebten Tag vollendet wird, zu verneinen –, sondern um die besondere Aufgabe, die Gott den Menschen zugedacht hat: inmitten der Schöpfung als Abbild Gottes ihn selbst präsent zu halten. „Die Bibel betont das Hervortreten des Menschen durch den besonderen göttlichen Anruf im Unterschied zu dem einfachen Befehl, durch den Gott die Gestirne und das Land, die Pflanzen und die Tiere erschafft. Gott setzt den Menschen durch sein schöpferisches Wort in ein Verhältnis der Unmittelbarkeit zu sich, das ihn als besonderes Geschöpf auszeichnet; er setzt sich so in Beziehung zum Menschen, dass dieser seiner Auszeichnung im geschöpflichen Gegenüber zu Gott entsprechen kann.“48 Auch wenn z. B. im Psalm 148 die gesamte Schöpfung eingeladen wird, Gottes Lob zu singen, auch die „Tiere und alles Vieh, Gewürm und Vögel“ (vgl. V 10), so ist doch nur der Mensch im Unterschied zu den nichtmenschlichen Lebewesen befähigt, die Welt als Schöpfung Gottes zu deuten und in ihr die Spuren Gottes zu erkennen, sie also „als Gleichnis Gottes zu lesen“. Die anderen Lebewesen, Tiere wie Pflanzen hingegen würden Gott durch ihre Existenz, d. h. durch ihr Dasein loben, aber eben nicht bewusst. „Das aber heißt: Der Mensch ist als Bild Gottes dafür verantwortlich, dass die Welt als Gottes Gleichnis lesbar bleibt.“49
a) Freiheit macht verantwortlich
Gerade weil der Mensch nicht nur instinktiv und impulsiv, sondern in Freiheit und überlegt handelt, und weil er durch technische Errungenschaften in die Natur auf eine Weise eingreifen kann, die weit über das hinausgeht, was er durch den Einsatz lediglich der eigenen Körperkraft schaffen könnte, obliegt ihm die Verpflichtung, sich den Mitmenschen, den Tieren und der Natur gegenüber so zu verhalten, wie es dem schöpferischen Handeln Gottes entspricht. „Dass Gott den Menschen als sein Bild, also zu seiner besonderen Entsprechung unter den Geschöpfen schuf, begründet nicht nur einen Vorzug ihnen gegenüber, sondern auch eine Verpflichtung.“50 Der Mensch soll sich einerseits bleibend bewusst sein, dass er in die natürliche Schöpfungsordnung eingebunden ist und dass zwischen ihm und den Tieren eine große Nähe und enge Beziehung herrscht. Andererseits soll er als Ebenbild Gottes der ihm anvertrauten Aufgabe entsprechen und die ihm faktisch gegebenen Möglichkeiten des Eingreifens in die Natur und des Umgangs mit den Tieren und den Mitmenschen so nutzen, dass er damit dem Leben dient und der Schöpfung zum Segen gereicht, indem er das in allen Lebewesen beobachtbare Streben nach Entfaltung und Weitergabe des Lebens als Ausdruck der lebensbejahenden und schöpferischen Liebe Gottes zu deuten weiß. Die leidvolle und oft verstörende Erfahrung, dass Leben de facto jedoch nur auf Kosten anderen Lebens möglich ist, dass das eigene Überleben den Tod anderer Lebewesen impliziert, stellt dabei eine Art „Kontrasterfahrung“ dar, mit der sich viele Menschen nicht abfinden, weil diese Logik des Fressen-und-gefressen-Werdens immer auch Schmerz und Leid verursacht. Die vielen religiösen Rituale rund um das Töten von Tieren, die sich in archaischen Religionen ausgebildet und die zu vielfältigen Opferritualen geführt haben, spiegelt etwas von diesem intuitiven Wissen des Menschen wider, dass jede Tötung eines Tieres nie nur dem eigenen Leben dient, sondern zugleich eine schwerwiegende Verletzung eines anderen Lebewesens ist und in einem gewissen Sinn eine Ordnung stört, sodass entweder dieses Lebewesen selbst oder eine Gottheit dafür um Vergebung gebeten werden muss bzw. durch unterschiedliche Rituale die gestörte Ordnung wiederhergestellt werden muss. Im Unterschied zu den Tieren hat der Mensch die Möglichkeit, über dieses Dilemma, dass Leben nur auf Kosten anderen Lebens möglich ist, zu reflektieren, und er kann die Logik des Fressen-und-gefressen-Werdens wenigstens bis zu einem gewissen Punkt durchbrechen, indem er so weit wie möglich nicht auf Kosten anderer Lebewesen lebt und dort, wo er nicht umhinkommt, es zu tun, Schmerz- und Leidzufügung vermeidet.
b) Der Eigenwert aller Geschöpfe
Allen Geschöpfen kommt deshalb ein Eigenwert zu. Sie auf ihren Nutzwert für den Menschen zu reduzieren, würde dem biblischen Schöpfungsglauben zutiefst widersprechen. Es gibt einen Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein.51 Diese Überlegungen erinnern an den Ansatz der ökologischen Verantwortungsethik von Hans Jonas (1903–1993).52 Nach Jonas kommt jedem Lebewesen von Natur aus ein Selbstzweck zu. Alle Lebewesen streben danach, Lebensmöglichkeiten auf die ihnen eigene Weise zu verwirklichen.53 Jonas spricht von einem „blind sich auswirkenden Ja“, das nach Erhaltung und Entfaltung des eigenen Lebens strebt, und von „vitalen Zwecken“, die sich aktiv dem Nichtsein entgegenstellen. „Obligatorische Kraft gewinnt dieses blind sich auswirkende Ja in der sehenden Freiheit des Menschen, die als höchstes Ergebnis der Zweckarbeit der Natur nicht mehr einfach deren weiterer Vollstrecker ist, sondern mit der vom Wissen bezogenen Macht auch ihr Zerstörer werden kann. Er muss das Ja in sein Wollen übernehmen und das Nein zum Nichtsein seinem Können auferlegen.“54 Während sich nämlich die Tiere diese Zwecke nicht selbst setzen, sondern sie einfach haben, ihnen also „blind“, d. h. von Natur aus folgen, ermöglicht erst die menschliche Freiheit die Setzung und Wahl von Zwecken. Mit anderen Worten: Die dem Menschen faktisch gegebene Freiheit macht ihn unmittelbar dafür verantwortlich, wie er mit sich, den nichtmenschlichen Lebewesen und der Natur umgeht, ob lebensdienlich oder zerstörerisch, ob er das natürliche Streben eines jeden Lebewesens nach Erhaltung und Entfaltung des Lebens fördert oder nicht.
c) Die Verwundbarkeit von Tieren und Menschen
Ein Aspekt, den Tiere und Menschen teilen, ist der der Verletzbarkeit. Die Menschen sind ebenso wie die Tiere verwundbar, sowohl als Individuen als auch in ihrem Eingebundensein in natürliche Zusammenhänge sowie in ihrer Abhängigkeit voneinander und von einem intakten ökologischen Umfeld. Das Ökosystem ist ein komplexes Netz von wechselseitigem Abhängig- und Verwiesensein. Das gemeinsame Bewohnen der Erde und die Nutzung von Synergien zwischen den Lebewesen ist die Grundlage für einen funktionierenden natürlichen Lebensraum, was diesen sowie die ihn bewohnenden Lebewesen aber umso anfälliger macht für Störungen. Was die Menschen von den Tieren allerdings unterscheidet, ist das Wissen um diese fragilen Zusammenhänge. Sie reflektieren über die eigene Verletzbarkeit und über die der anderen Menschen, wissen aber auch um die Vulnerabilität aller Lebewesen. Deshalb gewinnt die Verletzbarkeit obligatorische Kraft. Das Wissen um sie hat moralische Konsequenzen und wird zur Quelle von Verantwortung.