Deutungsmöglichkeit des Vorgegebenen eingesehen und in Folge verwirklicht werden können. Vorausgesetzt wird dabei allerdings eine bestimmte Interpretation von Wirklichkeit, die jeder Mensch lebensweltlich, d. h. im Sinne einer vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit vornimmt. Den Glaubensvorstellungen kommt hier beispielsweise eine wichtige Funktion zu. Solche Sinnpotentiale können normativ formuliert werden, beispielsweise im Gebot, keinem Lebewesen zu schaden, bzw. dass es gute und vernünftige Gründe geben muss, die eine Schmerzzufügung rechtfertigen können. Diese Gründe deuten ihrerseits auf einen höheren Wert hin bzw. ein weiteres Sinnpotential, das ohne die Verletzung des ersten nicht verwirklicht werden kann. So wird z. B. in Bezug auf die Tierexperimente argumentiert, dass diese dann – und nur dann – ethisch vertretbar sind, wenn sie die einzige Möglichkeit darstellen, humanmedizinisch und veterinär wichtige Erkenntnisse zu erlangen, und dieser Erkenntnisgewinn auch mit hoher Wahrscheinlichkeit erzielt werden kann.15
Freilich muss der Mensch auch anerkennen, dass seiner Beziehung zum Tier mehr an Sinnpotentialen eingeschrieben ist als die Nutzung von Tieren zu seinen eigenen Zwecken. So kann er z. B. beobachten und wissenschaftlich untersuchen, wie positiv sich die Beziehung zwischen Mensch und Tier auf beide Seiten auswirken kann, und er kann den Eigenwert eines Tieres erkennen, der dessen Totalverzweckung verbietet, sowie Sinnwerte, die der Wirklichkeit von Tieren eingeschrieben sind. Die Kontrasterfahrung sowie die Auseinandersetzung mit einer Konfliktsituation – wie z. B. jener von Tierexperimenten, dass eine wichtige medizinische Erkenntnis nicht gewonnen werden kann, ohne einem Versuchstier Schaden zuzufügen – machen bestimmte Werte sichtbar bzw. rufen sie ins Bewusstsein. So wird eine Kontrasterfahrung zur Sinn- und schließlich zur Motivationserfahrung, weil sie einen Menschen drängt, etwas zu tun, um eine Situation so zu verändern, dass sie dadurch zum Besseren gewendet wird und etwas Sinnvolles für alle Beteiligten bzw. Betroffenen entsteht. Die Sinnerfahrung motiviert also einen Menschen, das ihm Mögliche zu tun, um sinnvoll zu wirken und eine negative Situation zu überwinden bzw. in einem Konfliktfall die richtige bzw. die je bessere oder – unter Umständen – die weniger schlechte Lösung zu finden. Der ethisch motivierte Vegetarismus und Veganismus sind z. B. Ausdruck dafür, dass jemand zur Überzeugung kommt: Es liegt auch an mir, die Haltungs- und Schlachtungsbedingungen von Nutztieren zu verbessern, indem ich durch meine Konsumverweigerung letztlich Druck ausübe auf jene, die Tiere halten und vermarkten. Auch der bewusste Konsum von Fleisch und tierischen Produkten ausschließlich von Betrieben, deren Haltungs- und/oder Schlachtungsbedingungen ethisch vertretbaren Kriterien entsprechen, zielt in diese Richtung.
Entsprechend dieser Beschreibung der Grundstruktur der sittlichen Erfahrung sind konkrete, moralisch reflektierte Erfahrungen ebenso wie kognitive und affektiv-emotionale Aspekte entscheidend für ein sittliches Urteil. Unter Kognition meint man die aus Erfahrungen und Nachdenken gewonnenen sittlich relevanten Einsichten wie z. B. das Prinzip der Schmerzvermeidung bei empfindungsfähigen Lebewesen oder den Eigenwert eines jeden Tieres. Moralische Gefühle und Motivationen hingegen bergen ein oft intuitives, weil vorreflexives Wissen um das, was sittlich richtig und geboten ist. So können beispielsweise Mitleid und Empathie dazu drängen, der Notsituation eines Tieres Abhilfe zu verschaffen, oder Empörung angesichts einer Unrechts- oder Leidsituation kann verhindern, dass man sich mit einem erlittenen oder beobachteten Unrecht einfach abfindet, wenn z. B. ein Tier durch nicht artgemäße und individuengerechte Haltungsbedingungen Schmerzen, Angst, Stress … erleidet. Moralische Gefühle sensibilisieren für das Leid und Unrecht, sie motivieren, dem entgegenzuwirken, und setzen entsprechende Kräfte frei. Nach dem Tierethiker Jean-Claude Wolf teilt der Mensch mit vielen Tieren die Empfindungsfähigkeit. In der natürlichen Fähigkeit des Mitfühlens sieht er eine der wichtigsten Motivationsquellen dafür, dass sich Menschen gegen jede Form von Tierleid oder Tierquälerei zur Wehr setzen.16
b) Die Moralfähigkeit als „anthropologische Differenz“
Im Lauf der Ausführungen wird eingehend auf die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Mensch und Tier zurückzukommen sein. Ein Ergebnis sei vorweggenommen: „Weder ist der Mensch nichts anderes als ein Tier noch ist er ganz anders als ein Tier. Er ist das in Differenz zum Tier lebende Tier. Sein Dasein realisiert sich als Differenzgemeinschaft zum Tier. Zu bestreiten sind daher nicht die vielfältigen empirischen Einsichten der Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier, sondern lediglich, dass hierin schon zugänglich wird, was der Mensch im Vergleich zum Tier ist.“17 Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist u. a. seine Moralfähigkeit. Von einem Menschen erwarten wir, dass er Verantwortung für sein Handeln übernimmt, auch für seinen Umgang mit den Tieren. Von einem Tier fordern wir eine solche Verantwortlichkeit nicht ein. Einen Menschen, der ein Tier misshandelt, ziehen wir dafür zur Rechenschaft, einen Löwen, der einen Menschen anfällt und verletzt, ja sogar tötet, machen wir dafür nicht verantwortlich.
Menschen haben die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu wählen und sich für eine bestimmte zu entscheiden. Die jeweilige Entscheidung ist dabei nicht nur emotional-affektiv bedingt, sondern auch kognitiv begründet. Der Mensch kann sich einerseits seiner Emotionen vergewissern und sie kritisch reflektieren, er handelt also nicht nur „aus dem Bauch heraus“ oder bestimmten Impulsen oder Instinkten folgend, andererseits kann er vernünftig nachdenken und Gründe anführen, die seine Entscheidung bzw. sein Handeln rechtfertigen und als sittlich vertretbar ausweisen. Vereinfacht gesagt: Jemand handelt nicht nur aus Neigung oder impulsiv, motiviert durch Eigeninteresse oder Zweckdienlichkeit, sondern (auch) aus vernünftigen Gründen. Er will gewissen sittlichen Werten und Prinzipien entsprechen, von deren Richtigkeit und Verbindlichkeit er überzeugt ist, aber auch ein Ziel erreichen, das er für ethisch vertretbar hält. Willensfreiheit und Vernunftbefähigung begründen die Moralfähigkeit des Menschen. Beobachtet der Mensch sich, sein Handeln und Verhalten, wie er mit sich selbst und den Mitmenschen, aber auch mit den Tieren, der Umwelt und der Natur umgeht und zu ihnen in Beziehung steht, erfährt er sich als ein Wesen, das zu vernünftigem Wollen und Handeln befähigt und dafür verantwortlich ist, wie er diese Beziehungen gestaltet. Diese Fähigkeit, emotional reflektiert und vernünftig motiviert zu handeln, bzw. die Willensfreiheit und die Vernunft im Sinne praktischer Vernunft als Fähigkeit zur moralischen Entscheidung, markieren eine Differenz zwischen Mensch und Tier. Wie im Detail aufzuzeigen sein wird, bedeutet diese Differenz weder die Leugnung der Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier, noch begründet sie einen Ausschluss der nichtmenschlichen Lebewesen aus der moralischen Gemeinschaft. Das bedeutet: Auch wenn die nichtmenschlichen Lebewesen keine moralischen Subjekte im eben beschriebenen Sinn sind, sind sie moralische Objekte, d. h., dass der Mensch für das Verhalten ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Der Mensch trägt Verantwortung für die Folgen seines Handelns und Verhaltens, als auch dafür, wie es sich auf die anderen – inklusive der Tiere und der Umwelt – auswirkt.
Der Verantwortungsbegriff setzt voraus, dass das handelnde Subjekt Urheber seiner Handlung ist und frei handeln kann. Eine Handlung lässt sich damit nicht – jedenfalls nicht zur Gänze – angemessen durch Rekurs auf sie bedingende äußere und innere Faktoren verstehen, etwa auf die äußeren Umstände, auf evolutionsbiologische Mechanismen oder die psychische Disposition eines Menschen. Nur unter dieser Bedingung wird ein Mensch zu einem verantwortlichen Subjekt. Als solches handelt er nicht (nur) aus Zweckmäßigkeit oder Neigung, sondern immer auch um des sittlich Richtigen wegen, um das er weiß – sei es mit dem zunächst noch unthematisierten, d. h. vorreflexiven „moralischen Gespür“, von dem bereits die Rede war, sei es im Sinne von vernünftig reflektierten und erkannten sittlichen Einsichten. Dem sittlichen Wissen wohnt ein verbindlicher Charakter inne, der als solcher nicht zur freien Disposition steht. Verantwortung erwächst aus der persönlichen Einsicht in das sittlich Richtige und in die Folgen des Handelns. Das moralische Gespür beispielsweise, dass es sittlich falsch ist, einem empfindungsfähigen Lebewesen Schmerzen zuzufügen, verpflichtet mich, Schmerzzufügung zu vermeiden – und wenn ich es trotzdem tue, unterliege ich hierfür der Rechenschaftspflicht, d. h. dass ich entsprechend vernünftige und gewichtige Gründe dafür aufweisen muss.
Verantwortliches Handeln bedarf schließlich neben dem genannten sittlichen Wissen auch der Sachkenntnis in Bezug auf das Handlungsobjekt. So macht es z. B. einen Unterschied, ob