Martin M. Lintner

Der Mensch und das liebe Vieh


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wir Tierfriedhöfe, die anderen enden in unseren Mägen. Selbst vegan lebende Menschen halten Hunde oder Katzen und nehmen in Kauf, dass andere Tiere getötet und zu Futter für ihre Lieblinge verarbeitet werden. Die meisten Menschen stimmen der Einschätzung zu, dass die Haltungs- und Schlachtungsbedingungen in der Massentierhaltung ethisch kaum zu rechtfertigen sind – und essen dennoch bedenkenlos tierische Nahrungsmittel, die aus solchen Betrieben stammen. Wir wissen um die tierquälerischen Umstände in den allermeisten Pelztierfarmen. Das Tragen von Pelzmänteln ist deshalb mittlerweile vielerorts verpönt – und dennoch erzielt die Pelzindustrie in Europa seit einem Einbruch in den 1990er-Jahren wieder jährliche Umsatzrekorde, weil Pelzteile in vielfacher Form als Krägen oder Futter von Winterjacken, als Modeaccessoires und anderes mehr verarbeitet werden. Tierversuche werden gemeinhin abgelehnt und viele Menschen haben abschreckende Bilder malträtierter Versuchstiere im Kopf – und doch nimmt seit Beginn der 2000er-Jahre die Anzahl der Tiere kontinuierlich zu, die in diversen Experimenten verwendet werden und zu Schaden kommen. Die Tierethiker Herwig Grimm und Markus Wild führen Studien an, denen zufolge „im Jahr 2014 über 23 Milliarden Nutztiere (Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Geflügel) gehalten […], rund 64 Milliarden Tiere geschlachtet (Fische nicht eingerechnet) und rund 118 Millionen Labortiere verbraucht“10 worden sind.

      Bei immer mehr Menschen führen diese Spannungen und Diskrepanzen zu einem Nach- und Umdenken. Sie werden besonders für das millionenfache Leid sensibel, das wir in unserer modernen Industriegesellschaft Tieren zufügen. Aus tierethischen Gründen beschließen sie einen tiefgreifenden Wandel ihres Ernährungs- und Lebensstils, werden entweder zu Vegetariern, verzichten also auf das Essen von Fleisch, oder zu Veganern, indem sie jeglichen Konsum von tierischen Produkten vermeiden, ja sogar die Nutztierhaltung als solche ablehnen. Dennoch, die meisten Menschen essen weiterhin Fleisch und konsumieren tierische Produkte, obwohl auch sie die Haltungs- und/oder Schlachtungsbedingungen der Tiere, die sie essen bzw. deren Produkte sie konsumieren, ablehnen oder ihnen zumindest kritisch gegenüberstehen. Man mag von einem paradoxen Zustand sprechen oder es schlichtweg als einen inkohärenten Lebens- und Konsumstil bezeichnen, dieser Umstand stellt uns jedenfalls vor große ethische Herausforderungen. Wir müssen uns kritisch fragen, warum wir so erstaunlich wenig Konsequenzen daraus ziehen, dass wir um das vielfache Tierleid wissen, das durch unseren Konsum- und Lebensstil verursacht wird.11 Grimm und Wild ist zuzustimmen: „Obwohl die Tierethik als Thema mitten in der Gesellschaft angekommen ist, hat sich damit die zentrale Fragestellung der Tierethik keineswegs erledigt, im Gegenteil.“12 Für sie lautet diese Grundfrage: „Was dürfen wir mit Tieren tun und was nicht?“13 In der vorliegenden Publikation soll sie wie folgt präzisiert werden: „Wie sollen wir Tiere behandeln, um ihnen gerecht zu werden?“

      3.Von Tierethik, Tierschutz, Tierwohl und Tierrechten

      Die Tierethik ist ein Teilbereich der Ethik und beschäftigt sich mit dem Verhältnis des Menschen zum Tier in moralischer Hinsicht. Jedes Konzept von Ethik ist an bestimmte anthropologische und weltanschauliche Denkmuster sowie an philosophische Argumentationsfiguren rückgebunden. In den folgenden Absätzen sollen sie – in sehr komprimierter Form – erklärt werden. Damit wird zugleich auch der tierethische Ansatz vorgezeichnet, der in dieser Publikation entfaltet wird.

      Der philosophisch weniger interessierte Leser kann diese mehr theoretischen bzw. moralphilosophischen Ausführungen überspringen und zum vierten Kapitel der Einführung weiterblättern. Letztlich geht es – vereinfacht zusammengefasst – um drei Thesen. Erstens: Das Gute soll aus guten Gründen getan werden; und es gibt gute Gründe dafür, Tiere so zu behandeln, dass man ihren artspezifischen und individuellen Bedürfnissen, emotionalen Vermögen und kognitiven Fähigkeiten gerecht wird. Zweitens: Der Mensch ist im Sinne von Immanuel Kant ein moralisches Subjekt und als solches Adressat von kategorischen, d. h. unbedingten sittlichen Forderungen, die er erkennen kann und verwirklichen soll. Die Verantwortung für die Tiere ist Teil dieser sittlichen Forderungen. Drittens: Für das sittliche Handeln spielen auch moralische Gefühle wie Sympathie und Mitleid eine wichtige Rolle. Die Empfindungs- und Empathiefähigkeit stellen eine wichtige Motivationsquelle für tiergerechtes Handeln dar.

       a) Was ist Ethik?

      Ethik ist eine philosophische Disziplin und reflektiert – ganz allgemein formuliert – das Handeln des Menschen unter moralischer Perspektive. Im Unterschied beispielsweise zur Verhaltensbiologie, die versucht, die evolutionsgeschichtliche Entwicklung bestimmter Verhaltensweisen und deren evolutionären Nutzen zu verstehen, ist die Ethik keine rein deskriptive, sondern in erster Linie eine normative Wissenschaft, d. h. dass sie nicht nur den Ist-Zustand zu beschreiben und zu erklären versucht, sondern danach fragt, was sein soll. Sie ist das systematische Nachdenken über die Handlungen, das Verhalten und die Grundhaltungen des Menschen unter der spezifischen Rücksicht der sittlichen Beurteilung als gut bzw. böse auf der subjektiven sowie richtig bzw. falsch auf der objektiven Ebene. Die subjektive Ebene (gut bzw. böse) meint, dass der Mensch als das handelnde Subjekt mit seinen Motivationen, Intentionen, Interessen, Präferenzen … in den Blick genommen wird. Auf der objektiven Ebene hingegen (richtig bzw. falsch) wird danach gefragt, ob eine Handlung oder Grundhaltung „an sich“ sittlich richtig ist, d. h. ob sie mit allgemein gültigen sittlichen Prinzipien und Werten in Einklang gebracht werden kann, die in Normen verbindlich formuliert werden. Die Einsicht in das, was objektiv gesehen sittlich richtig ist, verdankt sich der vernünftigen Reflexion über die konkreten Erfahrungen einerseits sowie über abstrakte sittliche Werte andererseits, die man sich persönlich aneignet, und schließlich dem kritischen, vernunft- und wertegeleiteten Diskurs zwischen den moralischen Subjekten. Die Differenzierung zwischen der subjektiven und objektiven Dimension ist natürlich dahingehend eine abstrakte, als dass in einer konkreten Handlung die beiden Ebenen miteinander verflochten sind. Alle diese unterschiedlichen Aspekte machen die Moralität, d. h. die sittliche Güte einer Handlung aus. Dabei geht es darum, dass das, was auf der Ebene des handelnden Subjekts sittlich gut ist, mit dem in Einklang steht, was auch objektiv gesehen sittlich richtig ist, dass in diesem Sinne also das sittlich Gute dem sittlich Richtigen entspricht und umgekehrt. Das sittlich Richtige soll also auch mit einer sittlich guten Absicht getan werden. Umgekehrt reicht die gute Absicht allein nicht aus, um sittlich richtig zu handeln, sondern es bedarf der Sach- sowie ethischen Kompetenz und des Bemühens zu erkennen, wie in einer konkreten Situation das verwirklicht werden kann, was sittlich geboten ist. Der Volksmund bringt dies pointiert zum Ausdruck, wenn es heißt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

      Die vorliegende Publikation will nicht eine Begründung des moralischen Anspruchs leisten, warum der Mensch überhaupt moralisch gut und richtig handeln soll, sondern es wird vorausgesetzt, dass die Erfahrung des Sollensanspruchs ein wesentliches Element menschlicher Selbsterfahrung und -beobachtung ist. Der theologische Ethiker Dietmar Mieth beschreibt die Grundstruktur der sittlichen Erfahrung in drei Elementen: in der Kontrast-, der Sinn- und der Motivationserfahrung.14 Kontrasterfahrung meint die erlebte Diskrepanz zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Sie kann entstehen, weil unterschiedliche Normen miteinander in Konflikt geraten; weil die vorgefundene Situation einer wichtigen Norm und damit einem sittlichen Wert widerspricht; oder schlichtweg, weil jemand dank einer Art von moralischem Sinn intuitiv spürt, dass eine Situation nicht so ist, wie sie sein sollte, d. h. dass sie mit einem normativen Anspruch nicht in Einklang zu bringen ist. Für viele Menschen stellt in diesem Sinne das Wissen um artwidrige Haltungsbedingungen von Tieren und/oder von Schlachtungsvorgängen, die für das Tier physisch und psychisch mit Schmerzen und Belastungen wie Angst und Stress verbunden sind, eine Art von Kontrasterfahrung dar. Sie spüren, dass dies nicht richtig ist, und zwar unabhängig davon, ob sie das auch ethisch begründen können oder darüber ethisch reflektiert haben. In diesem Gespür, dass etwas nicht so sein soll, wie es ist, ist ein ebenso intuitives, d. h. zunächst noch nicht thematisiertes Wissen enthalten, wie die Situation sein könnte bzw. sollte. In unserem Fall bedeutet dies z. B., dass jemand angesichts malträtierter Tiere darum weiß, dass es nicht richtig ist, einem Lebewesen Schmerzen zuzufügen – wenigstens nicht grundlos. In der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit oder mit Werten und Normen, die es zu verwirklichen bzw. zu befolgen gilt, wird schließlich so etwas wie