Hans-Peter Dr. Vogt

Die unschuldige Königin


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Sie weiß, dass die für den Sicherheitsdienst oder als Sozialarbeiter arbeiten, und sie spricht sie direkt an. Ja, das sei ein regelmäßiges Training. Wenn sie mehr wissen wolle, dann solle sie sich mal mit Lara, Katharina, Leon oder mit Rochen unterhalten. Rochen, hatte Elvira gefragt. „Wer ist denn das?“

      Also redet Elvira mit Lara und mit Oma Katharina. „Wer ist Rochen“, will Elvira wissen.

      Lara seufzt. „Es gibt Dinge, die haben wir dir bisher nicht erzählt. Du bist noch jung und du musst nicht alles wissen, was dich vielleicht belasten würde. Du kennst viele der Ordner hier im Zentrum und du kennst auch Roman, der hier die uniformierten Ordner anleitet, aber das ist nur die sichtbare Organisation. Das, was jeder sehen darf.“

      Elvira hört erstaunt zu. „Du meinst, es gibt hinter dieser Organisation so etwas wie eine geheime Verbindung?“

      Jetzt mischt sich Oma Katharina ein. „Elvira, hör jetzt einmal genau zu. Lara hat dir eben etwas angedeutet, was du nie, niemals ausplaudern darfst. Einige Mitglieder der Familie wissen das, aber sie reden darüber nicht. Haben wir uns verstanden?“

      So kommt es, dass Elvira Rochen kennenlernt. Rochen ist klein und auf den ersten Blick unscheinbar, aber Rochen ist aufmerksam und er scheint mindestens über acht Augen zu verfügen. Sie sind überall. Selbst wenn dich Rochen fixiert, sieht er gleichzeitig alles, was im Raum um dich herum passiert. Rochen ist ein Phänomen. Er macht sich selbst „unsichtbar“, er will in der Menge untergehen und unerkannt bleiben, aber er sieht alles.

      Rochen ist vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig oder noch älter, Elvira kann das nicht einschätzen. Sie weiß nichts über Rochen aber sie sieht diese Aura dieses jungen Mannes. Sie erfasst das mit ihren Tentakeln, die sie von der Familie geerbt hat, und die durch Laras Ausbildung gewachsen sind. Sie kriecht in diesen jungen Mann hinein und sie staunt. Rochen ist nicht mit den Kräften ihrer Familie gesegnet, aber Rochen ist unglaublich. Elvira versenkt sich in diesen Jungen und sie beobachtet.

      „Soso“, meint Rochen. „Du willst also mehr über uns erfahren?“ Als Elvira nickt, meint er. „Lara hat mir gesagt, dass du den Mund halten kannst. Kannst du das wirklich? Nein, nicht nur, wenn du direkt gefragt wirst, sondern wenn man dich ausfragt oder Nachts aus dem Schlaf zerrt?“

      Elvira staunt. „So schlimm?“

      Rochen lächelt, dann nimmt er Elvira mit zu Conni, einem der Mädchen, die im Zentrum verkehren. Elvira kennt Conni vom Sehen. Sonst weiß sie nichts über Conni. „Kümmere dich mal ein bisschen um Elvira“, meint Rochen. „Bisschen Basiswissen“, fügt er hinzu.

      2.3.

      In den Folgewochen wird Elvira von Conni unter die Fittiche genommen. Sie sitzen im Zentrum. Plötzlich fragt Conni. „Das blonde Mädchen, was gerade an uns vorbeigegangen ist. Wie war die Farbe des Rocks? Was hatte sie für Schuhe an?“

      Als das zum ersten mal passiert, da guckt Elvira nur blöde. Die Fragen kommen jetzt öfters, und Elvira beginnt, ihre Umwelt mit wacheren Augen wahrzunehmen. Sie schaltet auch ihr Gesumm ein. Sie benutzt jetzt die Kräfte, die sie von der Familie geerbt hat.

      Dann wird Elvira in die U-Bahn und in die Stadt mitgenommen. Sie verfolgen wildfremde Passanten. Elvira beginnt auf bestimmte Zeichen zu achten. „Das da, das ist ein verdeckter Ermittler“, sagt Conni einmal. „Woher ich das weiß? Achte auf die Details. Sieh, wie er sich bewegt. Sieh zu, wie seine Augen tanzen oder absichtlich vorbeischauen, achte auf Handzeichen. Achte auf Ausbeulungen in den Taschen. Gibt es irgendwo ein Micro und ein Funkgerät? Lass uns den Mann verfolgen. Nein, nur kurz. Er wird das sonst merken.“

      Später schickt sie Elvira hinter solchen Männern und Frauen her. „Versuche, ihnen unerkannt zu folgen. Brich deine Verfolgung sofort ab, wenn sie dich spüren. Ja spüren. Sie haben so eine Art inneres Auge. Einen Instinkt für Gefahr.“

      Dann beginnt Conni Elvira zu zeigen, wie man sich auf der Straße unerkannt bewegt. Elvira staunt und lernt. „Versuche, mich zu verfolgen“, meint Conni irgendwann. Elvira staunt wieder. Sie hat Conni nach wenigen Minuten aus den Augen verloren. „Zeig mir das Geheimnis“, meint sie.

      Elvira lernt. Das ist eine neue Welt. Langsam, ganz langsam begreift sie, dass es auf dieser Welt zwei Arten von Gesellschaften gibt. Eine öffentliche und eine Verdeckte.

      Naja. Auch die Kids im Bunker sind eine Art geheime Organisation, aber das hier, das ist die organisierte Heimlichkeit. Eine ganz bewußt trainierte Unsichtbarkeit. Conni ist in diesen Dingen um vieles besser als die Kids im Bunker. Elvira lernt in diesen Monaten, die Augen selbst überall zu haben und alles zu sehen und zu registrieren.

      „Das dient deiner Sicherheit“, sagt Conni. Sie muss es wissen. Sie ist wirklich gut.

      Elvira fragt nie, wozu das alles gut ist. Sie lernt einfach von Conni.

      Conni hätte diese Ausbildung jederzeit abbrechen können, und sie gibt geheime Berichte an Rochen, Lara und Oma Katharina. Oma Katharina nickt dazu. “Ich habe schon immer gewußt, das etwas besonderes in diesem Mädchen steckt. Überstürze nichts. Sei geduldig und behutsam. Verrate nichts, was Elvira jetzt nicht zu wissen braucht.“

      Oma Katharina ist in dieser geheimen Organisation eine große Nummer. Sie steht als Leiterin des Zentrums weit über Rochen, und der ist selbst eine „große Nummer“.

      Conni hält sich an die Anweisung und sie trainiert Elvira. Es ergibt sich einfach so, dass sie Elvira für geheime Operationen einbezieht. Elvira weiß nicht einmal etwas davon. Conni schickt Elvira zum Beobachten. Dann wird Elvira durch andere abgelöst, Elvira berichtet über Kontakte. Sie beschreibt Personen und Gesichter.

      Elvira ist nicht blöd. Niemand hat ihr gesagt, was sie da tut, aber sie weiß, dass sie Teil einer geheimen Operation geworden ist. Es dient ihrer Sicherheit, wenn sie nichts weiß. Sie hätte nichts ausplaudern können. Conni ist ihr einziger Kontakt. Sie kennt die anderen Mitglieder dieser Organisation nicht einmal.

      Langsam wächst Elvira in diese Organisation hinein. Irgendwann spricht sie mit Rochen. „Du weist, dass ich als Enkelin von Leon über ein paar Fähigkeiten verfüge, die dir zum Beispiel fehlen?“

      Rochen nickt. „Klar. Willst du uns ein wenig mehr helfen?“ So kommt es, dass Elvira anfängt, sich in Vögel oder Insekten zu verwandeln. Sie kann das gut. Das sind Dinge, die ihr Tante Lara schon früh gezeigt hatte. Sie verfolgt jetzt solche „Opfer“ über längere Strecken. Sie merkt sich Gesichter und Kontaktpersonen und sie erstattet Bericht.

      Irgendwann wird sie von Lara an der Hand genommen. „Komm mal mit.“ Sie stehen plötzlich in einem Raum, in dem es nur einen Tisch und mehrere Stühle gibt, auf denen mehrere Menschen sitzen. Sie erkennt Rochen und Conni. Dann ist da ein alter Mann, den sie noch nicht kennt. Er wird Roy genannt. Auf dem Tisch liegen mehrere Pakete. „Du musst nicht wissen, wie die Freunde hier heißen“, meint Lara, aber du sollst wissen, warum du in den letzten Wochen beobachtet hast. Der alte Mann (den Elvira nicht kennt) schlägt das Papier von einem der Pakete zurück und er zieht die Reißverschlüsse der Taschen auf und schüttet den Inhalt auf den Tisch. Elvira staunt. Das sind Tausende von Euros. Dann gibt es da noch diese Pakete in Zellophan, mit einem weißen Pulver.

      „Heroin“, sagt Lara. „Was du hier siehst, das sind acht Kilo reines Heroin, und das hier“, sie zeigt auf die Geldscheine, „das sind über zehn Millionen Euro. Da muss man lange für arbeiten. Das ist die Ausbeute der Beobachtungen der letzten Monate. Das konnten wir heute Nacht abgreifen, dank deiner Mithilfe.“ Sie nimmt ein Bündel Scheine und drückt sie Elvira in die Hand. „Schau es dir genau an. Das ist schmutziges Geld. Dafür sind Menschen gestorben. Und das hier...", sie gibt Elvira eines der Pakete mit dem Pulver in die Hand. „Das hier ist der Tod, den du gerade in den Händen hältst. Sieh ihn genau an. Du sollst wissen, dass du vielen Menschen das Leben gerettet hast.“

      Elvira