Lisa Lamp

Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen


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die Fragen immer wieder stellten, würden wir solange schweigen, bis wir auf jeden einzelnen Vorwurf mit einem lauten und klaren Ja antworteten. Wir würden alles sagen und alles zugeben, egal ob Wahrheit oder nicht, nur um den Schmerzen und der Angst zu entkommen.

       Auch das Mädchen würde alles tun, damit es endlich aufhörte. Sie würde ihre Eltern verraten und ihre Geschwister der Hexerei anklagen, nur um von hier wegzukommen. Sie würde darum flehen, endlich sterben zu dürfen, auch wenn das bedeutete auf die grausamste Art und Weise den Tod zu finden.

       Die Kerzen im Raum brannten langsam ab, doch es würde bis morgen früh niemand kommen um neue anzuzünden. Ich legte mich auf den harten Boden und rollte mich zu einer Kugel zusammen, um der Kälte und dem Wind, der unter der Tür durchzog, zu entgegnen. In der Ecke über mir war eines von Hunderten Spinnennetzen, die sich in der Kirche angesiedelt hatten. Als der Raum langsam dunkler wurde, merkte ich erst, wie erschöpft ich von der ständigen Aufregung war. Die letzten Tage waren eine Zerreißprobe für meine Nerven und ich spürte wie Morpheus Hände nach mir griffen. Mein letzter Gedanke galt meinen Nachkommen und der Hoffnung, dass die Inquisition ein baldiges Ende finden würde. Im Gegensatz zu allen anderen hier im Raum war ich nämlich keinesfalls zu Unrecht in dieser Kirche. Ob ich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte? Nein. Ob ich für die Pest und das Viehsterben verantwortlich war? Nein. Ob ich Naturkatastrophen heraufbeschwor? Nein. Doch ich könnte die Kerzen wieder entzünden ohne auch nur ein Streichholz anzuzünden. Ich könnte die Fensterscheiben zerspringen oder sie durch Hitze schmelzen lassen und ich könnte mich mit den Spinnen an der Decke über die Ungerechtigkeit der Welt unterhalten. Ich war nicht zu Unrecht hier. Mein Name war Maria Holl und ich war wirklich eine Hexe.

      

       Ich bin ich

      2018 n.Chr.:

      Das Leben ist schön.

      Zumindest wird uns das schon vom ersten Tag unseres Lebens gepredigt. Doch uns wird mit dem gleichen Atemzug von unseren Eltern erklärt, dass es das Christkind gibt und alle Menschen gleich sind. Wieso sollten wir also glauben, dass unser Leben wundervoll ist, wenn das fliegende Geschöpf mit den goldenen Haaren, dem weißen Kleid und den großen Flügeln erstunken und erlogen war? Warum sollten wir darauf vertrauen, dass leben reizvoller ist als sterben, wenn das Mädchen auf dem Sitzplatz neben uns wegen ihrer großen Brille, ihren kurzen Haaren, ihrer altmodischen Kleidung, ihrem dunklen Hautton oder einfach, weil sie anders ist, behandelt wird, als gehöre sie nicht zu uns? Später, wenn wir schon angefangen haben, am Leben zu zweifeln, lernen wir Phrasen auswendig, in denen es darum geht, wie wichtig Schule und Bildung sind, aber letztendlich fragen wir uns doch, warum Bildung so einen hohen Stellenwert hat, wenn die Menschen früher in der Steinzeit das Rad erfunden hatten, ohne eine fünfjährige Ausbildung mit Matura absolviert zu haben. Während wir also noch darüber grübeln, wieso wir es nicht einfach so machen, wie die Menschen damals, fangen wir langsam an, uns zu verlieben und registrieren, dass wir unser eigenes Leben nicht kontrollieren können, egal wie sehr wir uns anstrengen. Wir sind jederzeit abhängig von der Reaktion der Menschen in unserer Umgebung. Aber wenn wir zehn Jahre später auf diese Zeit zurückblicken, wird uns nicht mehr die Verwirrung in den Sinn kommen, die wir damals verspürt hatten, weil wir nicht wussten, ob unser Leben auf diese Art weiter gehen sollte, sondern der Schmerz, als wir zum ersten Mal einen Korb einstecken mussten oder die Trauer, als unsere erste große Liebe uns verließ und wir nichts tun konnten, um es zu verhindern.

      Auch stellen wir jetzt langsam fest, dass unsere Großmutter, die uns als Kind gesagt hat, dass aus uns nie etwas werden wird, unrecht hat, denn wir stehen auf eigenen Beinen. Wir arbeiten für einen Chef, den wir nicht mögen, heiraten und ziehen in eine Kleinstadt, die irgendwo im nirgendwo liegt, um die perfekten 1,7 Kinder zu bekommen, die jeder haben sollte, um gut genug für die Gesellschaft zu sein.

      Gut zwei Jahrzehnte und Millionen an Streitereien später sind wir geschieden und unsere Kinder kommen einmal im Monat, um sich zu erkundigen, ob wir noch leben oder um uns zu sagen, dass wir schon wieder ein Enkelchen bekommen.

      Dann, nachdem wir jeden Sonntag mit unseren Nachkommen in der Kirche dem Gott dafür gedankt haben, dass alles in unserem Leben gut läuft, kommen wir irgendwann in unser Haus mit Garten, das für uns allein viel zu groß geworden ist, setzen uns auf die Terrasse mit dem Wissen, ab jetzt nicht mehr arbeiten zu müssen und stellen uns vor, was wir in unserem Leben noch tun wollen, bevor es endet.

      Doch wie es das Schicksal will, werden wir nie mehr dazu kommen, den Mount Everest zu besteigen, uns neu zu verlieben, noch einmal von vorne anzufangen oder nur der Sonne beim Aufgehen zuzusehen. Wir werden nur noch unsere Augen schließen und einschlafen.

      In den letzten Sekunden, während unserer letzten Atemzüge, werden wir all die Verwirrung, den Schmerz, die Wut, die Trauer und auch unsere gesamte Angst vergessen und uns daran erinnern, wie wir zu Ostern neben unserer Mutter gesessen haben um die Eier, die sie uns gereicht hat, zu bemalen.

      Vielleicht fällt uns auch wieder ein, wie unsere Schwester in unser Zimmer gekommen ist, nur um unter die Bettdecke zu kriechen und mit uns zu lachen, als wären wir wieder im Kindergarten, obwohl wir schon lange diesem Alter entwachsen sind. Wahrscheinlich werden wir uns auch an alle Kinobesuche, alle Geschenke und das gute Essen zu Weihnachten erinnern. Vielleicht sogar an den Stolz auf dem Gesicht unseres Vaters, als er uns mit unserem ersten Zeugnis von der Schule abgeholt hat.

      In diesem Moment steht die ganze Welt für uns still und es zählt nichts mehr, außer den Bildern unserer Familie und Freunde, die sich in unserem Kopf abspielen. Das Leben ist in diesem Augenblick traurig, aufregend, ängstigend, abenteuerlich, schwer und doch leicht, amüsant, chaotisch und vieles mehr, doch vor allem ist das Leben in diesem Moment schön, so wie es uns als kleines Kind gesagt worden ist. Obwohl die Welt uns manchmal hart und ungerecht erscheint, lieben wir es zu leben. Bestimmt ist es verwirrend, dass ich unser Leben beschreibe, da doch jeder von uns es tagtäglich lebt. Doch mein Leben wird nicht wie ein Muster ablaufen, egal wie sehr ich es mir auch wünsche. Ich werde keine Kinder bekommen. Ich werde in keine Kleinstadt ziehen. Ich werde nicht entscheiden, wen ich heirate und ich werde vermutlich nicht in einem Schaukelstuhl friedlich einschlafen, denn die Wahrheit ist, dass mein Leben nie normal war und auch nie wieder normal sein wird. Aber um das zu verstehen, muss ich die ganze Geschichte meines Lebens erzählen oder zumindest den Teil, der mein Leben für immer verändert hat.

      Deine Read

      

       Der Mond geht auf

      Liebe Marie!

      Ich erinnere mich noch haargenau an den Moment, als ich im Schulgang vor den Spinden der dritten Klasse stand und an meinen Fingernägeln kaute. Damals war mir noch nicht klar, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich das kalte Blech an meinem Rücken spüre und sich eine Ecke in meine Wirbelsäule drückt.

      Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen und es war immer noch unerträglich heiß, als würde der Sommer dieses Jahr gar nicht mehr vorübergehen wollen. Schweiß rann über meine Stirn und am liebsten hätte ich mir den Hoodie vom Leib gerissen oder die Ärmel hochgekrempelt. Meine hüftlangen Haare waren zu einem festen Zopf gebunden und lagen über meiner linken Schulter.

      Ich keuchte vor Schmerz als ich mein Gewicht auf mein anderes Bein, das in der Zwischenzeit eingeschlafen war, verlagerte, bevor ich mich wieder auf meine Lernunterlage konzentrierte. Während ich in mein Französischbuch sah, schob ich meine Brille auf meine zu groß geratene Nase und las mir die Vokabeln durch, die in der fünften Stunde zu einer Wiederholung drankommen würden. Doch bis dahin hätte ich eigentlich noch Zeit gehabt, denn die dritte Stunde hatte noch nicht angefangen.

      Emma, meine Klassenkollegin, die ich am ehesten noch als meine Freundin bezeichnen konnte, stand neben mir und erzählte gerade von ihrem Wochenende.

      Ich weiß, was Du jetzt denkst, aber Emma wollte gar nicht, dass ich ihr wirklich zuhöre. Sie wollte nur über ihr Leben reden, ohne dass sie wirkte, als