anderen, noch verbrachten wir außerhalb der Schule Zeit miteinander. Nur während der Schulzeit hielten wir uns gegenseitig Sitzplätze frei und sammelten Mitschriften und Hausaufgaben, wenn die andere krank war. Wir verbrachten die Pausen zusammen, damit wir nicht alleine in einer Ecke stehen mussten, als hätten wir keine Freunde. Traurigerweise war genau das der Fall. Ich war nie ein Opfer von Mobbing und ich war auch nie beliebt. Ich war einfach immer unsichtbar. Die Schüler gingen an mir vorbei und selbst wenn ich fehlte, fiel es niemandem auf. Meine Mutter, eine Psychologin, die mit ihrem Beruf verheiratet war, meinte einst, als ich weinend in meinem Zimmer saß, dass es meine Schuld sei, dass niemand freiwillig mit mir Zeit verbringen will. Ich würde mich nicht genug bemühen, nett zu anderen Menschen zu sein und den Weg Gottes nicht befolgen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht auch erwähnen, dass meine Mutter eine gottesfürchtige Katholikin, ohne Bezug zur Realität, war.
Sie war nicht immer so, aber als mein Vater uns für seine schwangere Sekretärin verließ und eine neue Familie gründete, drehte sie von einem Tag auf den anderen durch. Seitdem war sie nicht wiederzuerkennen. Aber genug davon.
Emma und ich waren am Ende des Ganges angekommen, als es passierte. Ich weiß noch exakt, was sie damals zu mir sagte. Ziemlich erschreckend, dass ich genau auf ihren letzten Satz geachtet habe, aber von dem restlichen Vortrag keine Ahnung mehr hatte.
»Read, kannst du dir vorstellen, dass dir das passieren könnte?«, hatte Emma gesagt und im Nachhinein wünschte ich, ich wüsste, worüber sie gesprochen hatte. Aber ich konnte nicht mehr nachfragen. Ich war wie erstarrt, fast gelähmt. Eine von IHNEN hatte die Eingangstüren geöffnet und der Wind schlug die Glastür hinter ihr wieder zu. Sie schwebte über den Boden des Schulflurs und ich konnte hören, wie die Schüler um mich herum scharf die Luft einzogen, bevor ihr Atem stockte. Ich konnte meine Mitschüler verstehen. Sie war wirklich wunderschön. Ihr hellblaues Seidenkleid umschmeichelte ihre Taille und erinnerte mich an die Farbe ihrer Augen. Ihr langes blondes Haar fiel über ihren Rücken und an ihren spitzen Ohren hingen große Kreolen. Auch wenn ihr Lächeln wirklich bezaubernd war und ihre Füße, an denen sie keine Schuhe trug, über den Boden schwebten, wie bei einer guten Fee aus einem Märchen, machte sie mir Angst. Ich wusste nicht warum.
Ich wusste nur, dass dieses kleine Menschlein nicht hierhergehörte, doch wie alle anderen wusste ich, was von uns erwartet wurde, wenn jemand wie sie hier auftauchte.
Ich neigte den Kopf zur Brust und murmelte: »Fatum viam invenit.«
Damals hätte mich niemand fragen dürfen, was diese Phrase bedeutet, denn ich hatte keine Ahnung und ich schätze, Emma und den anderen Jugendlichen in meiner Schule ging es genauso wie mir. Natürlich war das nicht der richtige Moment, um mit meinen Gedanken in die Vergangenheit abzuschweifen, aber ich musste sofort wieder daran denken, dass uns schon im Kindergarten diese Zeilen beigebracht wurden und wie sehr ich es verabscheut hatte, da es für mich nie einen Sinn ergeben hatte. Zu meiner Verteidigung wäre zu sagen, dass ich auch dachte, niemals in die Situation zu kommen, einer von IHNEN gegenüberzustehen. Doch nun war es soweit. Auch wenn ich wusste, dass es sich nicht gehörte oder sogar streng verboten war, hob ich den Kopf, um das Geschöpf vor mir zu betrachten. Bei kurzer Betrachtung sah sie wie ein normaler Mensch aus, mit ihren hellblauen Kulleraugen und ihrem Piercing im rechten Nasenflügel. Doch sobald ich an ihrem Körper hinabsah, konnte ich sehen, dass das unschuldig aussehende Mädchen keinesfalls normal war. An ihren Schultern, wo das Kleid die zarte Haut freilegte, stachen mir blaue kleine Tattoos ins Auge. Sie sahen aus wie Wassertropfen und schienen sich unter meinem Blick zu bewegen. Als die Farben immer dunkler wurden, sah ich panisch zurück in das Gesicht des Mädchens. Sie lächelte. Es war absurd. Sie stand einfach da, grinste mich an und klatschte drei Mal in die Hände.
Plötzlich wurde alles schwarz um mich herum und ich konnte nichts mehr sehen. Weder die grässlichen Schulwände, deren Farbe an ein Gefängnis erinnerte, noch das zierliche Gesicht mit den puppenhaften Augen. Auch mein Gehörsinn verließ mich nach und nach. Ich konnte das Atmen der anderen Schüler nicht mehr hören, auch wenn ich mich penetrant darauf konzentrierte. Bumm, bumm, bumm, hörte ich mein eigenes Blut in meinem Kopf pochen. Ich lehnte mich, um nicht zu fallen, an den Spinden hinter mir an.
»Read!«, schrie jemand und ich sah mich panisch um,
ohne auch nur einen Funken zu sehen.
»Read!«, hörte ich die Stimme wieder und drückte meine Handflächen auf meine Ohren.
»Wir brauchen dich, Read. Komm nach Hause!«
Die Stimme wurde immer lauter. Meine Sicht verschwamm, doch anstatt wieder die kalten Schulmauern und meine idiotischen Mitschüler zu sehen, sah ich Flammen. Vor mir loderte ein Feuer und Menschen liefen wie wild durch die Gegend. Eine lange Straße erstreckte sich vor mir und überall war es schmutzig. Es war heiß durch das Glühen des Feuers und es stank bestialisch. Ein Kind, höchstens zehn Jahre alt, saß in einer Ecke zwischen zwei Häusern und hatte eine alte Porzellanpuppe in der Hand. Das Gesicht der Puppe war voller Ruß und auch die Kleidung des Mädchens war kohlrabenschwarz vor Dreck. Doch am schockierendsten war, dass am Saum des Kleides trockenes Blut klebte. Das Kind wippte vor und zurück und sang leise vor sich hin. So leise, dass ich sie kaum richtig verstehen konnte.
»Kleines Püppchen, kleines Püppchen, die Welt ist grausam und gemein«, summte sie vor sich hin und streichelte dem Spielzeug über die künstlichen Haare. Die Flammen kamen näher und die Schreie der Menschen gingen mir durch Mark und Bein. Sie versuchten, sich hinter Häusern und in kleinen Spalten zu verstecken, doch überall wurden sie gefunden. Das Meer aus Flammen verschlang alles. Das Gemurmel der Kleinen war tröstlich in dieser Umgebung. Sie wirkte unbekümmert, auch wenn ich durch die Puppe ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Als die Hitze nur noch wenige Meter von der Kleinen entfernt war, sprang sie auf und drehte sich zum Feuer, sodass ich ihren Rücken sehen konnte. Ihr Kleid war hinten aufgerissen und ihre Haut war verkrustet. Ihre langen blonden Haare waren verfilzt und ein Käfer krabbelte an einer fettigen Strähne entlang. Die Puppe baumelte an ihrer rechten Hand hinunter. Die Nägel des Kindes waren eingerissen und auch auf ihren Handrücken sammelte sich der Schmutz der Straße.
»Lauf!«, schrie ich ihr zu, als das Feuer das Haus vor dem Mädchen verschlang und für immer zerstörte.
»Wohin?«, fragte das Mädchen und streckte die Arme aus, als wollte sie mir zeigen, dass alles zerstört war und es für sie keinen Ort mehr gab.
»Weg vom Feuer!«, rief ich hysterisch vor Angst, weil die Flammen das Mädchen fast erreicht hatten.
»Wenn wir nicht brennen«, fing sie an und drehte sich zu mir um, »wie wird dann die dunkle Nacht erleuchtet?«
Im ersten Moment entglitten mir die Gesichtszüge. Kurz setzte mein Herz für mehrere Schläge aus, um mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Mein Blutdruck stieg drastisch an und meine Atmung beschleunigte sich. Ich musste diesem Mädchen einfach helfen. Ohne länger zu überlegen, rannte ich los, um sie wegzuziehen. Ich rannte so schnell mich meine Beine trugen, doch es kam mir vor, als ob der Weg immer länger und länger werden würde. Tränen begannen meine Wangen hinunterzufließen und meine Füße verloren den Halt, sodass ich auf den Beton unter mir mit den Knien voran aufschlug.
»Vergiss nicht. Nihil fit sine causa«, flüsterte sie und trotz der Entfernung konnte ich ihre helle Stimme hören. Als die Flammen kamen, blieb sie still. Als ihre Haut Blasen warf und dunkelrot wurde, grinste sie. Ihre
Haarpracht zerfiel zu Staub und sie lachte. Nihil fit sine causa, nichts geschieht ohne Grund. Ja vielleicht. Doch damals, als meine Sicht wieder schwarz wurde und ich nur noch das Lachen des armen Mädchens im Ohr hatte, hätte ich lieber alles und jeden verklagt, als mir darüber Gedanken zu machen, ob sie recht hatte.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als ich wieder sehen konnte, stand Emma neben mir. Sie schien sich nicht einmal bewegt zu haben. Das Miststück, das nicht hierhergehörte, stand einfach da, als wäre es das Normalste auf der Welt und versuchte uns mit ihrem Blick zu röntgen. Ihre hellblauen Augen funkelten, während sie den einzelnen Schülern ins Gesicht sah. Bei jedem hielt ihr Blick kurz inne. Bei einigen länger als