ein Wort drehte sich die Chooserin um und lief leichtfüßig über den Marmorboden.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich verwirrt und versuchte,
mit ihr schrittzuhalten.
Sie ging nicht besonders schnell, doch wegen meinem verletzten Bein konnte ich nur schwer mit ihr mithalten, weshalb ich nach wenigen Metern anfing zu keuchen.
»Zu Direktorin Enyo Terrent, dem Verderben der Schule und danach bringe ich dich in dein Zimmer«, sagte sie und lachte über sich selbst.
Irritiert sah ich sie an, doch sie winkte ab. Während wir den Gang entlangliefen, versuchte ich, mir jedes Detail einzuprägen, aber schon nach wenigen Minuten gab ich auf. Dieses Gebäude war ein einziger Irrgarten. Die
Wände waren weiß und hin und wieder waren rote Pentagramme auf den Mauern, doch nirgendwo sah ich auch nur eine einzige Tür. Jeder Gang glich bis ins kleinste Detail dem Letzten. Von der Decke hingen alle zwanzig Meter Fackeln, die den Weg beleuchteten. Der Boden war schwarz. Obwohl, genaugenommen war er nicht nur schwarz, sondern in verschiedenen Schwarztönen schattiert. Immer wieder schien der Boden an einer Stelle heller und dann wieder dunkler zu werden. Noch während ich versuchte, zu verstehen, wie das Gebäude belüftet wurde, da es keine Fenster gab, blieb die Chooserin plötzlich vor einem der Pentagramme stehen. Ich kam ins Straucheln und beinahe hätte mein Gesicht Bekanntschaft mit dem Marmorboden gemacht, wenn die Blondine mich nicht festgehalten hätte. Die Chooserin rollte mit den Augen und meine Wangen färbten sich rötlich.
»Pass auf, wo du hintrittst«, zischte sie und klopfte in die Mitte des Sterns.
Sie fuhr mit dem rechten Zeigefinger die Zacken nach. Kurz sah ich sie verwundert an und war nicht mehr weit davon entfernt, zu fragen, ob sie nun völlig den Verstand verloren hatte, doch dann qualmte es unter der Wand hervor. Das Pentagramm begann zu glühen. Meine Führerin trat einen Schritt zurück und die Mauer schien sich zusammenzuziehen, bis in der Wand ein Loch entstand und den Blick auf ein kleines Zimmer freigab. Es war schlicht eingerichtet, doch auch hier befanden sich keine Fenster. Ein großer Kasten und ein Schreibtisch nahmen den halben Raum ein und eine Frau, Mitte vierzig, saß hinter dem Tisch und spielte gerade mit der Maus eines Computers. Wenigstens waren wir nicht ganz von der Zivilisation abgeschottet, dachte ich beim Anblick des technischen Geräts.
Die Chooserin räusperte sich und die Dame sah auf. Kurz schweifte ihr Blick über uns und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. Ganz ehrlich, warum grinsen diese Freaks ständig? Sah ich heute irgendwie komisch aus oder wird das Leben lustiger, wenn man den Verstand verloren hatte?
»Willkommen Read«, flüsterte die Frau, deren lockige Haare ihr ins Gesicht hingen.
Leicht kicherte meine Begleiterin, bevor sie zu Boden sah. Mit ihren grünen Augen, den Sommersprossen und der roten Haarpracht sah die Direktorin aus wie das lebende Klischee einer Hexe. Dennoch wäre sie auf eine eigenartige Weise schön gewesen, wenn sich nicht von ihrem linken Auge bis unter ihren Hals eine rote vernarbte Brandwunde gezogen hätte. Die Narbe verdeckte einen Teil ihrer blauen Tattoos, die die Form von Buchseiten, die sich in Vögel verwandelten, hatten.
»Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich«, sagte die Direktorin ehrfürchtig und ihre schmalen Lippen vertieften ihr Lächeln.
Ich brachte nicht einmal ein Schnauben zustande, denn das war eine glatte Lüge. Meine Mutter war so ziemlich das Gegenteil von mir. Sie war blond, ich war schwarzhaarig. Sie hatte braune Augen, ich hatte grüne. Sie war schlank, ich hatte überall Fettpolster, die ich nicht loswurde. Ihre Stupsnase war klein und süß, während meine die Hälfte meines Gesichts einnahm. Auch brauchte meine Erzeugerin keine Brille, die ihre miserablen Augen ausbesserte.
»Wir brauchen für Read ein Zimmer, Madame Terrent«,
meinte die Chooserin mit ihrer hellen Stimme.
Kurz blieb der Blick der Ältesten an mir haften, bevor sie sich umdrehte und einen Schlüssel aus der Schublade des Schreibtischs holte.
»Bitte schön«, wisperte sie und drückte mir einen kleinen silbernen Schlüssel in die Hand.
Ihre Finger umfassten mein Handgelenk und ihr Blick lag ungewöhnlich lang auf mir, bevor sie sagte: »Wir hoffen, dass du dich hier wohl fühlst. Marie wird dir bei allem helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wende dich einfach an sie.«
Das war der Moment, in dem ich endlich wusste wie die Chooserin, die mir alles genommen hatte, hieß. Endlich hatte ich für das personifizierte Böse in meinem Leben einen Namen.
Marie sah mich aufmerksam an, machte auf dem Absatz kehrt und deutete mir an, ihr zu folgen. Natürlich hätte ich jetzt schreien, weinen und fluchen können. Ich hätte toben und von der Direktorin verlangen können, dass sie mich nach Hause brachte, doch jetzt war ich schon einmal hier und es bestand die Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu überstehen. Also folgte ich Marie auf Schritt und Tritt, während die schwarze Katze sich immer wieder zwischen meinen Beinen hindurchschlängelte und mein Knöchel mich fast umbrachte. Bei jeder Bewegung fühlte ich mein Fußgelenk pochen, aber ich ging einfach weiter, als wäre nichts.
»Süß. Woher hast du sie?«, fragte mich Marie und ich sah sie verwirrt an.
Augenrollend deutete sie auf das schwarze Tier zu meinen Füßen und bückte sich, um die Katze zu streicheln.
»Sie gehört nicht mir«, beharrte ich auf meinem Standpunkt und versuchte, nicht über das Fellknäuel, das sich an meinen Unterschenkel drückte, um sich vor Marie in Sicherheit zu bringen, zu stolpern.
»Das scheint sie aber anders zu sehen. Katzen sind eigensinnige Wesen. Sie suchen sich ihre Gefährten aus, doch wenn eine dich erwählt hat, kannst du dich glücklich schätzen, denn sie wird dir treu bleiben und dich vor Unheil bewahren. Du solltest ihr einen Namen geben«, riet die Chooserin mir.
Sollte ich ihr nun erklären, dass ich nicht vorhatte hier zusammen mit einer Katze, die nicht mal mir gehörte, zu leben? Oder sollte ich einfach schnauben und ihr mit meiner Faust die Nase brechen, weil sie sich schon wieder in mein Leben eingemischte?
In dieser Situation hätte es so viele Reaktionen gegeben und was tat ich? Ich überlegte mir im Stillen schon einmal einen Namen für ein Tier, das anscheinend einen Narren an mir gefressen hatte.
»Vorsicht Stufe!«, riss Marie mich aus meinen Gedanken und das keine Sekunde zu früh.
Ich hob meinen Fuß reflexartig über die Erhebung und spürte wieder einen schmerzhaften Stich, der sich bis in meine Hüfte zog. Das Licht des Feuers an den Wänden war angenehm, sobald ich mich daran gewöhnt hatte, doch gleichzeitig wirkte es unheimlich auf mich. Es erinnerte mich ein wenig an ein Lagerfeuer im Wald, bei dem jemand Geräusche machte, um den Rest der Leute zu erschrecken. Noch beängstigender war jedoch, dass die Gänge wie ausgestorben waren. Das hier war doch so etwas wie ein Internat, oder nicht?
Wo waren die ganzen Schüler? Bis jetzt war uns noch niemand begegnet.
»Die anderen haben Unterricht«, antwortete Marie mir auf meine unausgesprochene Frage.
»Es ist mitten in der Nacht«, sagte ich und versuchte, nicht verwirrt zu klingen oder die Chooserin darauf hinzuweisen, dass ich glaubte, dass sie den Verstand verloren hatte.
»Wir haben auch immer nachts Unterricht. Der Mond macht uns stärker, weil die Göttin uns näher ist, deshalb findet auch der Schulbetrieb zu ihrer Zeit statt«, erklärte die Blonde mir und ihre hellblauen Augen funkelten wie Diamanten.
Am liebsten hätte ich gefragt, von welcher Göttin sie redete, denn obwohl Mutter streng religiös war, hatte ich von einer weiblichen Gottheit noch nie etwas gehört. Doch ich schob es auf und ermahnte mich, später das Gespräch noch einmal aufzunehmen, da wir wieder vor einem Pentagramm standen und mir die Begegnung mit Diana wieder einfiel. Die Chooserin steckte den Schlüssel, den sie mir aus der Hand gerissen hatte, in den Schlitz in der Mitte des Sterns und drehte ihn dreimal. Die Mauern erbebten und zogen sich zusammen, wie vor ein paar Minuten im Direktorat. Ein wenig Putz löste sich von der Wand und das Zeichen begann zu glühen. Ohne zu zögern trat Marie in das geräumige Zimmer, das