Walross endlich zur Tür hinausgeschwabbelt, was Belinda ermöglichte, ihren Sohn aus der Kinderbetreuung zu holen. Wieder einmal um zehn Minuten zu spät! Aber der Kleine war es wert, dass sie sich all das antat, von irgendetwas mussten sie ja leben.
Ob sie heute Abend Stephen eine SMS schicken sollte? Gestern hatte sie wie in alten Zeiten, wenn sie ihn früher ab und zu bei Familienfeiern sprach, eine Art Seelenverwandtschaft verspürt. Die Halbgeschwister waren zuletzt vor fünf Jahren aufeinander getroffen, bevor Belinda mit dem farbigen US-Soldaten Brian Petterson ihren überflüssigen Abstecher nach Amerika antrat.
Danach ließ sie sich nirgends mehr blicken; sie mochte sich keine hundsgemeinen Kommentare über halb-negroide Kinder und deren nichtsnutzige Väter anhören, schon die ersten Bemerkungen nach ihrer Rückkehr hatten dicke gereicht. Ihre Verwandtschaft hielt sich leider für etwas Besseres, und da hatte vieles keinen Platz, was nicht ins Konzept einer ehrbaren Hamburger Familie passte. Brüderchen Stephen hatte gestern ebenfalls gewirkt, als müsse er sich mal so richtig bei jemandem auskotzen … auch er galt ja als eher schwarzes Schaf, wenngleich der Hauptverfechter dieser Einschätzung jetzt frisch verstorben war.
An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, betrat Belinda McLaman eilig das Kindergartengelände, wo sich im nächsten Moment ein kleiner, schokoladenbrauner Junge juchzend in ihre Arme warf.
* * *
Nervös stöckelte Annika Hugler, die Sekretärin mit dem kupferroten Haar, auf ihren schwindelerregend hochhackigen Sandaletten hinter Stephen McLaman her in den »Thronsaal«, wie das riesige Büro seines Vaters von den Bediensteten der LAMANTEC AG gerne bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung kursierte nur halb im Scherz, denn Thomas McLaman hatte von Anfang an ein äußerst straffes Regiment geführt, welches keinen Raum für Widerspruch oder gegenteilige Auffassungen ließ.
Und nun kam sein Sohn daher und verlangte Einblick in alles und jedes, wollte auch noch den Safe entweihen. Den Safe, dessen Kombination niemand anderes in der Firma kannte und von dem man nur hoffen konnte, dass die geheime Nummernfolge für die Öffnung durch den verstorbenen Chef irgendwo hinterlegt worden war, wo man bislang noch nicht nachgesehen hatte. Denn gefunden hatte man trotz fieberhafter Suche nichts. Aktuell durchsuchte eine Horde von Programmierern den Rechner ihres ehemaligen Chefs nach versteckten Zahlenfolgen. Stephen sah es kopfschüttelnd und dachte sich seinen Teil: »Kaum bist du tot, kommen auch schon die Geier!«
»Stephen, was WOLLEN Sie hier überhaupt? Ich glaube nicht, dass es Ihrem Vater recht gewesen wäre, wenn Sie überall herumschnüffeln. Sein Stellvertreter, Herr Mühlenstein, kommt morgen von seiner Konferenz zurück und wird sich um alles kümmern! Bis dahin lassen Sie bitte alles unangetastet, Sie haben ohnehin keinerlei Befugnisse!«, konstatierte die Hugler in arrogantem Ton. Sie bedauerte längst, ihn leichtsinnigerweise in die Firmenräume eingelassen zu haben. Aber sie hatte eben gedacht, er käme nur vorbei, um sich von den ehemaligen Bediensteten seines Vaters das herzliche Beileid ausdrücken zu lassen oder ein paar persönliche Sachen aus dem Büro abzuholen.
Stephen gab sich gänzlich unbeeindruckt, grinste nur still in sich hinein. Er kannte Annika aus bereits zwei parallelen Leben und wusste daher recht genau, dass sie nur eines wirklich gut konnte: gut aussehen. Ansonsten war vor allem nicht wirklich viel Gehirn hinter diesen sagenhaft großen blauen Kulleraugen auszumachen. Halt nein, das war ungerecht, schalte sich Stephen in Gedanken. Kaffee kochen konnte sie auch noch ganz gut! Vater jedenfalls hatte die Aufgabenteilung so gefallen. Annika repräsentierte und gab das Covergirl der Firma, andere Damen erledigten währenddessen die restliche Arbeit des Sekretariats und ließen sich nebenbei von ihr zähneknirschend schikanieren.
Genau das versuchte sie nun auch mit dem Sohn ihres verstorbenen Chefs. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei! Ich habe klare Anweisungen und was Sie hier vorhaben, das ist nicht nur Hausfriedensbruch, sondern sogar … ach, keine Ahnung. So etwas wie Diebstahl, Raub oder Veruntreuung, ist ja auch egal!« Wütend funkelte sie ihn an, bevor sie ihr schickes Firmenhandy betont auffällig aus der Jackentasche zauberte.
Dieses Theater wurde Stephen nun doch zu viel. Er verspürte absolut kein Bedürfnis, sich vor diesem kühlen Püppchen und der Polizei rechtfertigen zu müssen. Jedoch war ihm klar, dass ER und niemand sonst in dieser Firma den letzten Trumpf im Ärmel stecken hatte. Denn er kannte die Safe-Kombination, hatte sie im letzten Leben (Gott, wie blöde das klang) selbst oft genug eingegeben, als er noch zur Geschäftsleitung gehörte.
»Wissen Sie was, Annika? Setzen Sie sich einfach wieder hinter ihren Schreibtisch und schlagen die Zeit tot, so wie sonst auch! Ich werde Ihnen den Gefallen tun und jetzt gehen. Aber ich wette mit Ihnen: spätestens in ein paar Tagen werden Sie mich anrufen und auf Knien darum bitten, dass ich Ihnen die Kombination verrate; ich kenne sie nämlich auswendig. Ach, übrigens: beten Sie lieber, dass ich niemals Ihr Chef werde – ansonsten wäre es ganz bestimmt meine allererste Amtshandlung, Sie zu feuern!« Das künstliche, glockenhelle Lachen Annikas, welches sie ihm zum Abschied verächtlich hinterherschickte, klang nicht ganz so souverän, wie sie beabsichtigte; Stephen bemerkte es mit Genugtuung.
Zuhause angekommen, berichtete er seiner Mutter von den Vorkommnissen im Büro ihres Mannes. Kirstie stieg augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht und sie stellte ihr Glas mit einem Knall energisch zurück auf die Spüle. Wenn gelegentlich das irische Temperament mit Mama durchging, dann warf sie gerne mit Gegenständen um sich; das Glas hatte gerade noch Glück gehabt.
»Diese aufgeblasene Tussi! Jedes Mal, wenn ich Thomas dringend sprechen hätte müssen, hat sie mich ausgebremst. Und dieser Ton, den die an sich hat! Ich bin mir vorgekommen, als hätte ich dort in der Firma ohne ihre ausdrückliche Genehmigung nicht einmal das Recht zu atmen! Thomas hat sie natürlich auch noch in Schutz genommen, seine rote Ikone. DAS allerdings ist nun vorbei, die kann was erleben!« Kirstie rauschte an ihrem Sohn vorbei durch die Tür, um ihre Schuhe anzuziehen.
»Mama, stopp! Jetzt beruhige dich erst einmal, morgen ist auch noch ein Tag. Schau auf die Uhr, die meisten werden dort sowieso schon gegangen sein; alle bis auf die Programmierer, die sind ja ein wenig nachtaktiv«, schmunzelte Stephen. »Ich bin dafür, dass wir uns so richtig schön BITTEN lassen, vorbeizukommen und den Code zu verraten. Wetten, das werden sie innerhalb absehbarer Zeit tun? Im Safe liegen unter anderem die Zugangsberechtigungen, die Quellcodes für unsere Programme und diverse Kennwörter, die sie früher oder später brauchen werden.«
»UNSERE Programme? Du arbeitest doch überhaupt nicht für die LAMANTEC, oder ist mir da etwas entgangen?« Kirstie hielt irritiert inne, stellte aber den Schuh zurück an seinen Platz. Steve hatte recht, heute würden sie nichts mehr erreichen können. Außerdem gedachte sie Annika höchstpersönlich verbal zu zerlegen und dafür musste diese nun mal anwesend sein.
Sie überlegte angestrengt, während ihr Sohn weiterhin zufrieden in der Küchentür stand. »Wieso sollten sie ausgerechnet dich nach dem Zugangscode fragen? Du kennst die Nummernfolge doch gar nicht, genau so wenig wie ich! Dein unvernünftiger Vater hat von jeher ein Staatsgeheimnis daraus gemacht, er zog absolut niemanden ins Vertrauen. Die einen waren ihm nicht gut genug, und bei denen, die ihm ebenbürtig schienen, witterte er sofort Konkurrenz und fürchtete, man würde an seinem Chefsessel sägen. Auch wenn er das niemals zugegeben hätte.«
»Wer weiß, wer weiß – vertraue mir einfach!« Stephen ging, noch immer lächelnd, hinauf in sein Zimmer. Soeben hatte seinHandy den Eingang einer SMS von Belinda angezeigt.
* * *
Manchmal verhielt sich Stephen McLaman ausgesprochen sentimental. Vor allem immer dann, wenn es in irgendeiner Weise um Erinnerungen an Lena ging. Noch immer trauerte er seinem ersten Leben nach – demjenigen, in welchem Lena seine geliebte Ehefrau gewesen war. Beim zweiten Versuch einer Lebensgestaltung war dann leider so einiges schief gelaufen, doch lebte Lena zum Schluss mitsamt der gemeinsamen Tochter wenigstens in seiner unmittelbaren Umgebung.
Das Blatt wendete sich für Stephen damals bei einem Besuch des Strandcafés; hier gelang es ihm, Lena mit der Situation etwas auszusöhnen. Es war ihr lange Zeit sehr schwer gefallen, ihm zu verzeihen oder ein Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen. Stephen war schließlich Lenas Halbbruder und gleichzeitig der Vater ihrer kleinen Tochter,