Andrea Ross

Himmel (jetzt reicht's aber)


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versucht, ihr die Zusammenhänge zu erklären. Dass hier der Himmel seine wundersamen Finger im Spiel hatte und ihre Tochter sich eines Tages als Messias outen werde, sie beide nur als menschliche Werkzeuge in einem größeren Plan fungierten. Als eine Art moderner Neuauflage von Maria und Josef. Doch wer hätte schon eine solchermaßen abstruse Geschichte geschluckt, ohne Zweifel am Wahrheitsgehalt derselben zu hegen?

      Lena hatte Stephen verständlicherweise im Verdacht, auf diese Weise nur den vermutlich alkoholund drogenbedingten Ausrutscher schönreden zu wollen, sich und seine Körperteile auf einer gewissen Party in Spanien nicht im Griff behalten und ausgerechnet sie, seine Halbschwester, geschwängert zu haben. Zumindest hielt sie diese Theorie so lange unverändert aufrecht, bis sich herausstellte, dass ihre gemeinsame Tochter tatsächlich merkwürdige Anwandlungen bekam, die diese unwahrscheinliche Messias-Sache dann doch mangels anderer Erklärungen irgendwie wahrscheinlich machte.

      Trotzdem – das Treffen im Strandcafé war damals der erste Schritt zur Aussöhnung gewesen, Stephen verband damit sehr positive Erinnerungen. Deshalb hatte er heute genau diese Restauration in bester Lage am Elbufer für ein Treffen mit seiner anderen Halbschwester auserkoren; in zirka einer halben Stunde würde Belinda eintreffen, wie ihm ein kurzer Blick auf die Zeitanzeige seines Handys verriet.

      Stephen war absichtlich etwas früher gekommen, um seinen sehnsüchtigen Erinnerungen nachzuhängen. Er wählte genau denselben Fensterplatz, auf dem er damals gesessen war. Und Belinda würde Lenas Stelle einnehmen, wenn auch nur in Bezug auf die Sitzordnung. Lena … wie sie nach intensiven Gesprächen in der Abendsonne gesessen war … wie ihr Haar mit den letzten Strahlen aufzuflammen schien …

      »Hey, Stevie! So verträumt? Komm, lass dich erst einmal drücken!« Er hatte gar nicht bemerkt, dass Belinda neben ihm stand und über das ganze Gesicht amüsiert grinste. Er stand auf und begrüßte sie: links ein Küsschen, rechts ein Küsschen. Dann setzten sie sich. Erst jetzt nahm er wahr, dass draußen auf dem Parkplatz der froschgrüne Peugeot leicht schräg in einer Parklücke stand. Sie musste wohl mit Schwung eingeparkt haben.

      Nach der ersten Wiedersehensfreude wurde Stephen klar, dass er im Grunde fast gar nichts über Belinda wusste. Sie hatten sich stets nur kurz auf Familienfeiern getroffen und zum Leidwesen seines Vaters gemeinsam versucht, diese etwas aufzulockern. Doch abgesehen davon war er lediglich über Grundsätzliches informiert, noch niemals zuvor traf er sich mit Belinda alleine und ohne familiären Anlass. Warum hatte sie ihn überhaupt um ein Date gebeten? Er würde sie später einfach danach fragen.

      »Na, dann erzähl mal, Schwesterchen. Wie ist es dir denn so ergangen, mal abgesehen von deinem Ausflug nach USA?«, begann Stephen die Konversation. »Ich weiß ja von gar nichts, kenne nicht einmal dein Söhnchen. Wo ist das Kerlchen eigentlich jetzt, warum hast du ihn nicht mitgebracht?«

      Belinda freute sich sichtlich über die ungewohnte Anteilnahme an ihrem Leben. »Dennis ist heute auf einem Kindergeburtstag eingeladen, ich muss ihn erst am Abend wieder abholen. Deswegen habe ich dir genau diesen Tag vorgeschlagen, wir hätten sonst nicht in Ruhe reden können. Dennis ist nämlich recht wild und muss ständig eingefangen werden, was Gespräche immer ziemlich erschwert!«, lachte Belinda und verdrehte die Augen. »Der hat recht viele von meinen Genen mitbekommen, weißt du?«

      Oh ja, Stephen konnte sich erinnern. Als kleines Mädchen hatte Belinda ständig für Aufregung gesorgt. Einmal war sie in einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit ihrer Mutter entwischt und wurde verzweifelt im ganzen Haus gesucht, bis man schon an eine Entführung glaubte. Gerade in dem Moment, als Vater die Polizei anrufen wollte, stand sie dann plötzlich grinsend im Türrahmen, als sei nichts geschehen. Angetan mit Klamotten von Kirstie, welche ihr viel zu groß waren und deswegen auf dem Boden hinter ihr her schleiften; außerdem war sie bemalt wie ein Pfingstochse.

      Es stellte sich heraus, dass sie mit einer Taschenlampe als Beleuchtung in Kirsties riesigem Kleiderschrank gesessen war und eine Modenschau nebst Schminkstudio veranstaltet hatte, die MakeUp-Spuren an Kirsties Kleidung sprachen ebenso deutlich Bände wie die vielen ausgeschütteten Schuhschachteln.

      »Weißt du noch?« Stephen und Belinda tauschten diese und ähnliche Geschichten aus ihren kurzen Begegnungen während der Kindheit aus. Erinnerten sich gemeinsam, wie Belinda beinahe im Gartenteich ertrunken wäre und Stephen sie ein anderes Mal von einem viel zu hohen Baum gerettet hatte. Später rauchten die beiden ihren ersten Joint zusammen hinter einem Gebüsch in einer abgelegenen Ecke des Gartens, während ihre Angehörigen angeregt über das Erbe von Tante Katharina debattierten.

      Irgendwann waren diese netten Anekdoten alle aus der Versenkung des Gedächtnisses geholt und Belinda sinnierte seufzend: »Ja, diese Zeiten blieben leider die weitaus Besseren in meinem Leben. Seither habe ich nicht mehr viel Grund zum Lachen gehabt!« Während Belinda wild gestikulierend die eher unangenehmen Begebenheiten ihres Erwachsenenlebens zum Besten gab, ging der Nachmittag langsam in den Abend über. Wie einst während Stephens Besuch mit Lena stand die Sonne nun tief über der Elbe und tauchte die wenigen verbliebenen Gäste in ein eigentümliches Licht. Nicht rötlich diesmal, noch nicht.

      Als habe sich die Natur seiner an diesem Tag blonden Begleiterin angepasst, wirkten die Sonnenstrahlen heute wie lange Finger aus leuchtendem Gold, die sich in Belindas langem Haar verfingen und es aufleuchten ließen. Stephen fühlte sich unwillkürlich an das Märchen »Rumpelstilzchen« erinnert, in welchem die arme Müllertochter Stroh zu Gold spinnen musste. Belinda erweckte optisch den Eindruck, als trage sie das funkelnde Ergebnis dieser Bemühungen auf dem Kopf.

      Belinda bemerkte, dass Stephen sie fasziniert anstarrte und meinte schelmisch: »Keine Angst, das sieht nur so aus! Ich muss dich enttäuschen, ich trage gar keinen Heiligenschein!« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Verdammt! Ich bin schon wieder spät dran!« Belinda sprang auf und kippte hierbei ihre Kaffeetasse um, in welcher sich noch ein Rest hellbraunen Milchkaffees befunden hatte; dieser hinterließ nun unschöne Flecke auf der Tischplatte. Es kümmerte sie nicht – Belinda hauchte Stephen einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schon war sie draußen, glitt in ihr Auto und fuhr mit aufheulendem Motor vom Parkplatz.

      Stephen setzte sich wieder zurück an den Tisch, er wollte in Ruhe seinen Kaffee austrinken und noch ein wenig seinen Gedanken nachhängen. Klar, auch Belinda war seine Halbschwester und sah Lena entfernt ähnlich – doch ansonsten bildete sie wohl eher deren Gegenpol. Sie hatte, gnädig ausgedrückt, eine rechte Sauerei an ihrem Platz hinterlassen und auch ihren Kaugummi einfach in den Aschenbecher gedrückt. Jetzt erst bemerkte Stephen, dass ihr billiges Handy noch auf dem Tisch lag, sie hatte es wohl wegen des fluchtartigen Aufbruchs vergessen. Kopfschüttelnd steckte Steve es ein.

      Belinda. Ob sie wohl wegen Vaters Tod auch heute in komplett schwarzen Klamotten gesteckt hatte? Eher nicht, wenn man ihr belastetes Verhältnis zu ihm bedachte, welches zu seinen Lebzeiten gründlich von seiner Missachtung gegenüber dieser Tochter überschattet gewesen war. Vielleicht war sie auch einfach eine Anhängerin der düsteren Gothic-Bewegung geworden? Egal.

      Stephen zahlte und brach auf. Er wollte im Internet noch so einiges recherchieren und das Treffen mit Belinda ordnungsgemäß auf seiner Yggdrasil-Zeichnung anbringen. Als Symbol für Belinda würde er ein schwarzes Kreuz wählen, das passte zu ihr; schließlich trug sie ein auffälliges Kettchen mit einem Templerkreuz aus schwarzen Glassteinen um den Hals.

      Nach Lena und Yoli war dies die dritte junge Frau, die er einzuzeichnen hatte. Lena war selbstverständlich durch ein rotes Herz dargestellt und die Spanierin Yoli durch einen schwarz-rot-gelb gestreiften Stier. Letztere allerdings nicht auf den neuesten Ästen, die symbolisch für dieses dritte Leben standen, denn da würde er sie nach Lage der Dinge nicht einmal kennen lernen.

      Sollte er auch Kati einzeichnen? Zum Beispiel mit einem kotzgelben T-Shirt als Symbol? Nein, entschied er grinsend innerhalb von Sekunden. Die war nicht wichtig genug und nicht zuletzt wegen ihres fruchtlos verlaufenen Ultimatums sowieso bereits Geschichte.

      * * *

      Hinter einem stattlichen Aktenberg saß der höchst nervöse Volker K. Mühlenstein. Gestern erst war er von einer eilig einberufenen Konferenz unter Vorsitz der LAMANTEC AG aus Frankfurt am Main zurückgekehrt. Die kommissarische Konzernleitung hatte sich mit Vertretern